Europas Aufbruch

Zeitenwende 1989 Die Sowjetunion entlässt ihre Vasallen, Europa wächst wieder zusammen. Der Schriftsteller György Dalos blickt auf Chancen und Probleme, die sich daraus ergaben.

Symbolträchtig: Am 11. November 1989 fällt ein Stück Mauer in Berlin. Foto: GERARD MALIE/AFP/Getty Images
Symbolträchtig: Am 11. November 1989 fällt ein Stück Mauer in Berlin. Foto: GERARD MALIE/AFP/Getty Images

Der Zerfall der einst so mächtigen Sowjetunion, das Scheitern des Realsozialismus – wie konnte das geschehen? Drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lässt sich der wesentliche Grund aus Sicht von Historikern und Politikwissenschaftlern klar benennen: Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) war unfähig, im Rüstungswettlauf sowie technisch und ökonomisch mit den kapitalistischen Staaten, allen voran den USA, mitzuhalten. Das lange notdürftig zusammengehaltene wirtschaftliche System der Sowjets war zu schwach – und kollabierte Ende der 1980er Jahre endgültig. Auch die „biologische Erschöpfung“ der Machthaber, sprich der Personalverschleiß – zwischen 1982 und 1985 verstarben drei kommunistische Staats- und Parteichefs –, sowie das desaströse militärische Abenteuer in Afghanistan haben ihren Teil zum Ende der Sowjetunion beigetragen.

Ohne den Wert dieser Erklärungen schmälern zu wollen, muss auch auf eine weitere immanente Schwäche des Systems UdSSR hingewiesen werden: seinen unverhohlen autoritären und imperialen Charakter. Zu verschiedenen Zeiten dominierte das sowjetische Modell außerhalb seiner Staatsgrenzen vier asiatische und acht europäische Länder sowie, nach Fidel Castros Revolution, eine lateinamerikanische Republik. Gemein waren ihnen die Diktatur der kommunistischen Partei, das, bei allen Deutungsunterschieden, Festhalten an der Ideologie des Marxismus-Leninismus inklusive eines aufgezwungenen Atheismus, die politische und kulturelle Zensur und die massenhafte Bespitzelung der Gesellschaft durch Staatssicherheitsorgane.

Die Sendung auf Arte

Den Dokumentarfilm „Palast der Gespenster: Der letzte Jahrestag der DDR“ gibt es am Dienstag 1.10.2019 um 22:50 Uhr bei ARTE und bis 6.10.2019 in der Mediathek.

Endspiel: Tschecho-slowakische Einheiten entfernen im Dezember 1989 Stacheldraht an der Grenze zu Öster- reich. Foto: GERARD FOUET/AFP/Getty Images
Endspiel: Tschecho-slowakische Einheiten entfernen im Dezember 1989 Stacheldraht an der Grenze zu Öster- reich. Foto: GERARD FOUET/AFP/Getty Images

Panzer gegen Emanzipationsbewegungen

Auf dem europäischen Kontinent standen sich die beiden Welthälften gut organisiert gegenüber: militärpolitisch durch die von den USA dominierte Nato und den auf sowjetische Initiative hin begründeten „Warschauer Vertrag“. Diese in der westlichen Sprachregelegung als „Ostblock“ oder „Warschauer Pakt“ betitelte Allianz – mit der DDR, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien – galt für die Sowjetunion geopolitisch als Gewinn. In einigen der Staaten waren sogar bedeutende Kontingente der Roten Armee stationiert. Politisch und ökonomisch aber brachten die Satelliten den Kreml in unvorhersehbare Schwierigkeiten. Aufgrund historischer und kultureller Unterschiede stieß die Sowjetisierung Ostmitteleuropas auf heftigen Widerstand. Fast zyklisch, jedes zwölfte Jahr, kam es zu Ausbruchsversuchen einzelner Länder aus der Zwangsvereinigung. 1956 war es der blutige ungarische Volksaufstand, 1968 der weitgehend friedliche „Prager Frühling“ und 1980 die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność. In allen Fällen wurden die Emanzipationsbestrebungen mit sowjetischen Panzern oder durch militärischen Putsch vereitelt.

Die Konsolidierung des kommunistischen Systems forderte allerdings immer größere ökonomische Opfer. Praktisch betrieb die UdSSR mit spottbilligen Rohstofflieferungen und Anleihen die künstliche Beatmung ihrer Verbündeten. Schließlich erlaubte der große Bruder den kleinen Vasallen sogar, im großen Stil Westkredite aufzunehmen. Das führte sehr bald zu deren chronischer Verschuldung – mit Polen und Ungarn als Spitzenreitern. Moralisch untergruben die Transaktionen mit dem Klassenfeind zudem das sozialistische Prestige der Kreditnehmer, was auch Moskau nicht verborgen blieb.

Als im März 1985 der 54-jährige Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt wurde, war er sich über die in Jahrzehnten der Stagnation angehäuften Probleme seines Landes nur annähernd im Klaren. Und seine ursprüngliche Agenda sah ziemlich bescheiden aus, nämlich: Die Sowjetunion verlässt das Rüstungsniveau der 1980er Jahre, zieht sich aus Afghanistan zurück und findet einen Modus Vivendi mit dem Westen, um von dort die notwendige Technologie zu erhalten, mit der sie ihre marode Wirtschaft ankurbeln kann. Parallel dazu, so Gorbatschows Pläne, wird den lokalen Verwaltungen und Betrieben eine gewisse Autonomie gewährt und der bürokratische Druck auf Kultur und Öffentlichkeit gemildert – ohne auf das Machtmonopol der Partei zu verzichten.

Mit dem Auftritt des neuen KP-Führers ergab sich für die kleineren Länder im sowjetischen Einflussbereich eine bislang unbekannte Konstellation, war doch bis dato jeder noch so vorsichtige Reformversuch vom Kreml verhindert worden. Parallel dazu verwandelte sich Gorbatschow für den kritischen Teil der Öffentlichkeit, inklusive der Reformkommunisten, in einen Hoffnungsträger. Seine Reisen nach Budapest, Prag und Warschau brachten ihm Pluspunkte, eindeutig auf Kosten der dortigen Nomenklatura. Erstaunlich früh, im Juli 1986, gelangte das Politbüro in Moskau zur einstimmigen, damals jedoch streng geheim gehaltenen Beurteilung: „Die Methoden, die wir gegenüber Ungarn und der Tschechoslowakei angewandt haben, sind unannehmbar. Wir können keine administrative Methode in der Führung der Freunde anwenden. Im Grunde brauchen wir diese Führung über sie gar nicht.“ Das hieß: im Zweifel kein Einmarsch mehr zum Schutz des „real existierenden Sozialismus“.

Die Sendung auf Arte

Den Dokumentarfilm „Gorbatschow: Eine Begegnung“ gibt es am Dienstag 1.10.2019 um 21:45 Uhr bei ARTE und bis 6.10.2019 in der Mediathek.

Nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 rollen Trabbis Richtung Bayern. Foto: Sven Creutzmann/Mambo photo/Getty Images
Nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 rollen Trabbis Richtung Bayern. Foto: Sven Creutzmann/Mambo photo/Getty Images

Massenflucht beim Europa-Picknick

Die Sowjets hatten ohnehin genügend eigene Sorgen. Gorbatschows Reformprogramme „Perestroika“ und „Glasnost“ brachten ab 1988 nicht nur mehr Freiheiten für die Bürger, sie setzten auch staatszersetzende Energien frei – vor allem in Gestalt nationaler Konflikte. Die Erosion des Ostblocks beschleunigte sich so rasant. Am schnellsten gelang es in Polen, durch Verhandlungen am Runden Tisch einen Rahmen für politischen Pluralismus zu schaffen. Dann entstanden in Ungarn erste inoffizielle Organisationen und Parteien, die das wirtschaftlich bankrotte, aber nicht ganz kraftlose System des kleinen Landes weder genehmigen noch verbieten konnte. Aus dem Milieu der Bürgerrechtsbewegungen stammte die Idee, im August 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze ein „Paneuropäisches Picknick“ zu organisieren. Wohlgemerkt, eine Massenflucht von DDR-Bürgern war nicht geplant, aber die Tatsache, dass sich in diesem Sommer Hunderttausende ostdeutscher Touristen in Ungarn aufhielten, sorgte sowohl bei der Opposition als auch in der ostdeutschen Staatsführung für Aufregung. Schließlich wurde aus der symbolischen Grenzöffnung ein reales und medienwirksames Ereignis.

Die Veränderungen in Polen und Ungarn bewirkten einen Dominoeffekt: Erstens ermunterten die Aktivitäten der neuen Bürgerrechtsbewegungen zweifellos ähnliche Gruppen, die in benachbarten Ländern noch als Dissidenten von ihren Regierungen verfolgt wurden. Und zweitens mussten die hohen Funktionäre der Ostblock-Staaten mit wachsender Panik die Tatsache erkennen, dass die Panzer und Kampfflugzeuge der Sowjets und Bruderländer sie dieses Mal nicht aus der Bredouille retten würden. Bei aller Gewaltbereitschaft sahen sie sich deshalb außerstande, den wachsenden friedlichen Protesten ihrer Bevölkerungen die Stirn zu bieten.

So fielen die Dominosteine – die autoritären Regime der DDR, Bulgariens, der CSSR und zuletzt Rumäniens – nacheinander. Durch den endgültigen Zusammenbruch des Ostblocks, den Abzug der Sowjettruppen und die deutsche Wiedervereinigung stellte sich nicht bloß die Frage nach der Schaffung demokratischer Institutionen und einer funktionsfähigen Marktwirtschaft, sondern auch nach der Selbstfindung der ehemaligen Satelliten in der Familie der europäischen Staaten. In den Tagen der friedlichen Umwälzungen herrschten diesbezüglich noch Illusionen: Man erwartete eine rasche Aufnahme in die Europäische Union. Es kam anders: Allein das Klopfen an der Tür dauerte 14 Jahre. Das Einleben in die neuen Strukturen gestaltete sich keineswegs reibungslos. Selbst die Integrationskraft der EU erwies sich als nicht stark genug. Und die Konflikte der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Innenpolitik einiger neuer Mitgliedsstaaten zu wenig den liberalen Werten der EU entspricht. Vielmehr etablierten sich autoritäre, populistische, antieuropäische Bewegungen. Insgesamt wirft Europa in seinem jetzigen Zustand viele Fragen auf. Fest steht: Auf keine dieser Fragen gibt es eine Antwort, in der der Begriff „Europa“ fehlt.