EWIG RUFT DER BERG

ALPINISMUS Im Gebirge zeigt sich die Natur des Menschen, beobachtet Experte Michael Ott.

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Noch vor 300 Jahren wäre kaum ein Mensch auf die Idee gekommen, einen Gipfel wie den Cerro Torre zu besteigen. Berge galten als schreckliche Orte. Auf ihren Gipfeln vermutete man dunkle Magie, an ihren Hängen Monster. Das änderte sich erst mit der Idee, die Erde zu vermessen und bis in den letzten Winkel zu erobern. Die Briten taten sich in der Frühphase des Alpinismus hervor. Ihr aristokratischer Alpine Club, gegründet 1857, ist der älteste Bergsteigerverband der Welt. Dort entwickelte sich ein Wettstreit – in 80 Tagen auf die Westalpen. Vieles gelang, manches zu einem hohen Preis. Aber nicht alle Gipfel konnten erklommen werden. Es brauchte die Weltkriege, um den Alpinismus bis auf die höchsten Berge der Welt, die Achttausender, zu bringen. In Gebirgskämpfen wurden die romantischen Vorstellungen von Naturverbundenheit unter von Granaten ausgelösten Lawinen zerstört. Der Berg wurde wieder zum Feind, den es zu besiegen galt. Klettern entwickelte sich zur Materialschlacht. Ex-Soldaten wie Luis ­Trenker erklommen in der Folge Gipfel „fürs Vaterland“. Bei Expeditionen in den Himalaja gehörten Flaggen zum Gepäck wie Seile und Pickel. Ab den 1950ern fielen so die Achttausender: zuerst der Annapurna, dann der Mount Everest, 1964 der letzte, der Shishapangma.
Damit endete die Ära des Nationalismus im Bergsteigen. Es folgt die bis heute andauernde Zeit der radikalen Individualisten wie ­Reinhold ­Messner, die nicht mehr nur Berge, sondern auch sich selbst bezwingen. Sie versagen sich technische Hilfsmittel, sogar Begleitung. Der Purismus, den sie in der Begegnung mit der Natur suchen, wird vermarktet. Die Berge stehen bis heute für Reinheit, Unberührtheit. Dabei hat der Mensch die Gebirgswelt unwiederbringlich zerstört. Das Eis ist seit der Industrialisierung rußgeschwärzt. Der Klimawandel lässt die Gletscher schmelzen. Ski­gebiete haben ballermannartige Strukturen ins Gebirge gebracht. Nur abgelegene Gipfel wie der ­Cerro ­Torre bleiben noch verschont. Wer weiß wie lange noch.

→ Der bayerische Literaturwissenschaftler Michael Ott verbindet seine Leidenschaft fürs Bergsteigen und für Wildniserzählungen mit seiner Forschung.

Mythos Cerro Torre

Dokumentarfilm
Samstag, 16.5. • 20.15 Uhr
bis 22.5. in der Mediathek.