Wie hypnotisiert starren sie auf das Meer. Die Wellen kommen und gehen, und in der Ferne verwischt die Gischt der nächtlichen Brandung die Grenze zwischen Himmel und Erde. Für die 17-jährige Ada (Mame Bineta Sané) und ihre Freundinnen, die an der Küste der senegalesischen Hauptstadt Dakar auf sandigem Boden stehen, ist der Atlantik zweierlei: Projektionsfläche für den Traum von einer Zukunft in Europa. Und Massengrab für alle, die auf dem Weg dorthin ihr Leben lassen.
Die Szene spielt sich wenige Meter neben einer abgelegeben Strandbar ab, in der Ada mit ihrem Geliebten Souleiman (Ibrahima Traoré) verabredet war. Obwohl sie in Kürze eine arrangierte Ehe mit dem wohlhabenden Unternehmer Omar (Babacar Sylla) eingehen soll, trifft sie sich heimlich weiter mit dem jungen Mann, der tagsüber bei flirrender Hitze auf einer Großbaustelle schuftet. Dann taucht Souleiman nicht mehr auf. Ein Gerücht macht die Runde: Zusammen mit einigen Kollegen von der Baustelle soll er in einem Boot Richtung Spanien aufgebrochen sein. Kurze Zeit später träumt Ada, wie Fischer seinen leblosen Körper in ihrem Netz finden.
Was den jungen Männern auf dem Meer tatsächlich geschehen ist, wird in dem Sozialdrama „Atlantique“ nicht erzählt. Stattdessen richtet die Regisseurin Mati Diop (Foto rechts) den Blick auf die Angehörigen, die zurückbleiben und mit der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Liebsten leben müssen. „Ich wollte die Geschichte von Odysseus neu erzählen – aber aus der Sicht seiner Ehefrau Penelope“, sagt Diop im Interview mit ARTE über ihr Debüt in Spielfilmlänge, das es 2020 als erster senegalesischer Beitrag auf die Shortlist der Oscar-Verleihungen schaffte.
EINE GEISTERHAFTE ATMOSPHÄRE
Bereits 2009 hatte Diop einen Kurzfilm über die Fluchtgeschichte eines Bekannten gedreht. Dem war die Überfahrt nach Spanien gelungen – doch das spanische Rote Kreuz fing ihn ab und brachte ihn zurück nach Senegal. „Es erinnerte mich an Odysseus’ Irrfahrt nach Ithaka“, so Diop. Laut der Filmemacherin verbreitete sich der Traum von einem Leben in Europa in den späten Nullerjahren wie ein Virus in dem Land, das bis 1960 unter französischer Kolonialherrschaft stand. „Barça ou Barsax“ (auf Deutsch: „Barcelona oder Tod“) wurde zur Kampfansage der senegalesischen Jugend – und wirkt heute wie eine verhängnisvolle Prophezeiung: Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats starben allein im Jahr 2021 1.153 Menschen auf der nordwestafrikanischen Seeroute, die entlang der Küsten von Gambia, Senegal, Mauretanien und Marokko verläuft. Lokale NGOs schätzen die Zahl bis zu viermal so hoch. „In Dakar herrscht seither eine geisterhafte Atmosphäre“, sagt Diop. „Es ist unmöglich, auf das Meer zu schauen, ohne an die Menschen zu denken, die dort verschwinden.“
Um diese Stimmung abzubilden, engagierte sie für „Atlantique“ die preisgekrönte Kamerafrau Claire Mathon („Porträt einer jungen Frau in Flammen“, 2019). Die fängt das Meer in nahezu traumgleichen Bildern ein: mal als stille, endlose Weite; mal als tosendes Nichts, das alles in sich zu verschlingen droht. Untermalt von der elektronischen Musik der kuwaitischen Künstlerin Fatima Al Qadiri kündigt sich schleichend an, dass Diops realpolitisches Drama über das Massensterben im Meer eine bizarre Wendung nehmen wird.
Es beginnt in der Nacht, in der Ada ihre arrangierte Ehe eingehen soll: Das Hochzeitsbett geht in Flammen auf. Der Polizist, der in dem Fall ermittelt, wird von hohem Fieber lahmgelegt. Und die Mädchen aus der Nachbarschaft suchen wie fremdgesteuert das Haus des Bauunternehmers auf, der Souleiman und seinen Kollegen drei Monatslöhne schuldig geblieben war. Nehmen die Männer indirekt Rache an dem kapitalistischen, neokolonialen System, in dem sie keine Zukunft hatten? Oder können die Mädchen die Seelen ihrer Freunde nicht loslassen und erliegen womöglich allesamt einer Art Halluzination? „Ich war angetan von den muslimischen Geistererzählungen, die in Senegal weit verbreitet sind“, verrät Mati Diop.
Der Bezug zu Senegal und zum Film liegt in der Familie: Ihr Onkel, der senegalesische Filmemacher Djibril Diop Mambéty, setzte 1973 einen Meilenstein im afrikanischen Kino: Sein Film „Touki Bouki“ erzählt von einem jungen Paar, das Senegal verlassen möchte. Kurz darauf kehrte Mati Diops Vater, der Musiker Wasis Diop, seiner Heimat den Rücken und ging nach Paris, wo die Filmemacherin 1982 geboren wurde. „Ich habe ein extrem starkes und inspirierendes Vermächtnis geerbt“, sagt Diop. Daran wolle sie mit ihrer Arbeit anknüpfen.
2019 erhielt sie für ihren Debütfilm den Großen Preis der Jury in Cannes. Trotz dieser Ehre sei sie traurig, dass die Auszeichnung ihres Films als bahnbrechend gilt, kommentierte Diop. Der Grund: In der 72-jährigen Geschichte der Festspiele war „Atlantique“ der erste Beitrag einer schwarzen Regisseurin. „Ziemlich spät – und ziemlich unglaublich, dass das immer noch relevant ist“, so die Preisträgerin.