Seine größte Hymne

200 Jahre nach der Uraufführung: Vier Orchester interpretieren je einen Satz von Beethovens 9. Symphonie. ARTE überträgt – leicht zeitversetzt – live.

Skizze von Beethoven auf einer Partitur
Die 9. Symphonie in d-Moll, uraufgeführt 1824, ist die letzte vollendete Symphonie Beethovens und mit ihrem Einsatz von Gesang im Finalsatz eine echte Revolution. 200 Jahre später widmet ARTE diesem besonderen Stück und seiner Bedeutung für die Nachwelt einen dreiteiligen Schwerpunkt. Foto: Library of Congress / World Digital Library / picture alliance / akg-images

Beethovens 9. Symphonie ist Menschheits-Musik, die mit Schillers „Ode an die Freude“ die ganze Welt umarmt. 1972 wurde die Neunte vom Europarat zur Europahymne erkoren, 1985 zur Hymne der Europäischen Gemeinschaft ernannt. Nun wird sie 200 Jahre alt und ist gleichsam fester Bestandteil der Alltagskultur: vom „White Album“ der ­Beatles (1968) bis zum Stanley-­Kubrik-Film „A Clockwork Orange“ (1971). Die 74 Minuten, die Dirigent ­Wilhelm ­Furtwängler für seine Version der Neunten brauchte, wurden später sogar zum Maß für die Speichergröße einer CD. Zum Jubiläum begibt ARTE sich nun auf eine europäische Spurensuche: Am 7. Mai werden Orchester aus Deutschland, Italien, Frankreich und Österreich – im Leipziger Gewandhaus, in der Philharmonie de Paris, der Mailänder Scala und im Wiener Konzerthaus – je einen Satz dieses Meisterwerks interpretieren. Das ARTE Magazin reist vorab in vier Sätzen mit ­Beethoven durch Europa.

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie: Leipzig, Paris, Milano, Wien

Konzert

Dienstag, 7.5.
— 21.35 Uhr
bis 6.5.25 in der
Mediathek

ERSTER SATZ: BEETHOVEN UND DEUTSCHLAND

Friedlicher Protest, Demonstrationen und „Wir sind das Volk!“-Rufe: Die Freiheitsbewegung in der DDR begann 1989 in flottem Tempo – musikalisch gesprochen könnte man sagen: im Allegro ma non troppo – und nahm unaufhaltsam an Fahrt auf. So, wie der erste Satz der Neunten. Am Ende stand der Chefdirigent des Leipziger Gewandhausorchesters, Kurt Masur, im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt am Pult und dirigierte den letzten Akt eines abgewickelten Staates. Am 2. Oktober 1990 wurde die DDR mit Beethovens Musik zu Grabe getragen. Bereits am Weihnachtstag im Jahr 1989 hatte Leonard Bernstein die Vereinigung von Ost und West mit dem gleichen Werk gefeiert, als er Musikerinnen und Musiker aus München, Paris, London, New York und Leningrad dirigierte. Den Schiller-Text wandelte er um in: „Freiheit, schöner Götterfunken“ – Beethoven als Überwindung des Kalten Krieges. Beethovens letzte Symphonie hat Deutschland seit jeher vereint: Die gesamtdeutsche Olympiamannschaft war zwischen 1956 und 1964 mit den Klängen der Neunten angetreten. Und die Teilung Deutschlands hatte selbst das Autograf der Symphonie zerrissen: Ein Teil der Beethoven-Handschrift lag über mehrere Jahrzehnte im Westen, der andere wurde der DDR von Polen übergeben. Erst mit der Vereinigung wurden beide Teile in der Staatsbibliothek in Berlin vereint.

Kaum ein anderes Werk hat die deutsche Musikgeschichte derart beeinflusst wie die Neunte. Beethoven widmete sie „in höchster Ehrfurcht“ Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Richard Wagner schwärmte, die Neunte sei „eine Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft.“

Wenn das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons in Leipzig nun in der ARTE-Übertragung die 600 Takte des ersten Satzes spielt, knüpfen sie damit auch an eine lokale Tradition an: Bereits 1918, zum ersten Jahreswechsel nach dem Ersten Weltkrieg, begründete Dirigent Arthur Nikisch den Brauch, Beethovens Neunte zu Silvester zu spielen – als Ode an den Frieden. Ein Neujahrs-Ritual, das bis heute besteht.

ZWEITER SATZ: BEETHOVEN UND FRANKREICH

In der Generalpause im zweiten Satz der 9. Symphonie hielt es das Publikum der Uraufführung nicht auf den Sitzen: Die Menschen jubelten und applaudierten – und das Orchester musste erneut beginnen. Das bewegte Scherzo, das Beethoven hier anstimmt, könnte sein tänzerisches Verhältnis zu Frankreich charakterisieren. Immer wieder schaute er über den Rhein: Seine Missa solemnis schickte er dem französischen König, der „Fidelio“ steht in der Tradition der französischen Rettungsoper, und die Kompositionen „Egmont“ und „Coriolan“ setzen sich mit den Umbrüchen in Frankreich, mit Tyrannei und Freiheitskampf, auseinander. Genau verfolgte Beethoven die Weltpolitik des jungen Napoleon, widmete ihm zunächst sogar seine 3. Symphonie, die „Eroica“, nannte den Korsen einen „Prometheus“, einen Licht- und Freiheitsbringer.

Doch als die Kriege Frankreichs blutiger wurden und Napoleon sich zum Kaiser krönte, wich Beethovens Bewunderung seinen humanistischen Zweifeln. Bereits als Schüler in Bonn war -Beethoven durch den Franziskanerpriester Eulogius Schneider geprägt worden, der schließlich als Jakobiner und Chefankläger des Revolutionstribunals in Paris selbst Opfer der Guillotine wurde. So skeptisch Beethoven am Ende seines Lebens nach Frankreich blickte, so sehr wurde er von Frankreichs Komponisten verehrt: Berlioz studierte und kommentierte seine Werke genau; und Frankreichs Orchester intonierten Beethovens 5. Symphonie gern als „symphonische Marseillaise“. Als Emmanuel Macron sich 2017 gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen durchsetzte und mit 39 Jahren zum jüngsten Präsidenten Frankreichs gewählt wurde, trat er zu den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ vor seine Anhänger. Die Europahymne im großen Innenhof des Louvre wurde zum perfekt inszenierten Bekenntnis zu einem Kontinent der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Ein Geist, den auch das Orchestre de Paris unter Klaus Mäkelä sendet, wenn es aus der der Pariser Philharmonie den zweiten Satz der Neunten interpretiert.

 

Joana Mallwitz
Wiener Konzerthaus: Joana Mallwitz, Dirigentin In ihren Anfangsjahren tapezierte ­Joana ­Mallwitz die Wände ihrer kleinen Wohnung mit Kopien von ­Beethovens Melodien. 2019 kürte sie die Musikzeitschrift Opernwelt zur Dirigentin des Jahres. Foto: Lutz Edelhoff/ARTE

DRITTER SATZ: BEETHOVEN UND ITALIEN

Im dritten Satz dringen – ganz langsam – Licht und Luft in die 9. Symphonie. Die Instrumente setzen ein, eines nach dem anderen. Alles sucht Atem und singt in großem Bogen. Langsam schimmert das Thema der Freiheit durch. Die musikalische Lichtsetzung erinnert an Beethovens italienische Vorbilder, die ihn seit seiner Jugend prägen. Schon als junger Bratscher der Bonner Hofkapelle spielte -Beethoven nach Anweisungen des Kapellmeisters Andrea Lucchesi aus Venedig. Und auch seinen letzten regulären Unterricht erhielt er in Wien von einem der damals wohl bekanntesten Komponisten Italiens, dem Kapellmeister der Kaiserlichen Hofkapelle: Antonio Salieri. Salieri lehrte Beethoven besonders die Vertonung italienischer Texte. Beethovens Wien war Reiseziel internationaler Künstler. 1822 besuchte ihn der italienische Komponist und Lebemann Gioachino Rossini. Er bewunderte Beethoven, aber noch mehr liebte er Pasta und la dolce vita. Um so bestürzter war Rossini über den grübelnden Kollegen, den er in seiner bescheidenen, düsteren und unaufgeräumten Wohnung in der Wiener Landstraße aufsuchte. Rossini schrieb später über diese Begegnung: „Aber was kein Stift ausdrücken könnte, ist die undefinierbare Traurigkeit, die in allen seinen Zügen lag.“ Auch Giuseppe Verdi sollte mit -Beethoven hadern, fand das Finale der Neunten schlicht und einfach: „schlecht gesetzt“.

Längst ist Beethoven auch in Italien zu Hause, besonders beim Orchester der Mailänder Scala. Die Oper wird derzeit vom Franzosen Dominique Mayer geführt, der Italiener Riccardo Chailly, der lange das Gewandhausorchester in Leipzig geleitet hat, dirigiert den dritten Satz der Symphonie. Am Ende durchweht ein tristes Piano die Musik, bis die Fanfare zum großen Finale erklingt.

VIERTER SATZ: BEETHOVEN UND ÖSTERREICH

7. Mai 1824 im Theater am Kärntnertor: Ludwig van Beethoven konnte nur noch dumpfen Klang hören, seine Augen klebten an den Lippen des Chors, und als der letzte der 940 Takte des vierten Satzes verklungen war, tobte das Publikum. Dirigent Michael Umlauf fasste den Komponisten auf die Schulter und drehte ihn zum Saal. Nun konnte -Beethoven sehen, dass es richtig war, sich – trotz eigener Zweifel – für das Chor-Finale entschieden zu haben. Die Uraufführung seiner Neunten war ein gigantischer Erfolg.

In seinen letzten Wiener Jahren tauchte Beethoven immer tiefer in die Musik ab. Sein Hörvermögen versagte, reisen wollte er nicht mehr. Geplante Auftritte in London fanden nie statt, und der immer komplexe Klang wurde zu seiner eigentlichen Welt. Neben der revolutionären Neunten entstanden die Missa solemnis, die letzten Sonaten und Streichquartette. Zukunftsmusiken! 35 Jahre lang lebte Beethoven in Wien, über 60 Mal ist er hier umgezogen. In der Natur von Heiligenstadt notierte er sein bewegendes Testament, er veranstaltete Akademien für den Wiener Kongress – und in Wien liegt er begraben. In einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof: Gruppe 32 A, Nr. 29.

In Österreich lebt Beethoven auch weiter, egal, ob im Austro-Pop von Kurt Sowinetz, der einst sang „Alle Menschen san ma zwider“, oder in den regelmäßigen, energiegeladenen Aufführungen der Wiener Symphoniker im Wiener Konzerthaus. Das Orchester bestreitet das Finale dieses europäischen Konzert- und Fernsehabends, am Pult steht die Chefdirigentin des Berliner Konzerthausorchesters: Joana Mallwitz.

Interview Sophia Häglsperger
»Mein eigenes Herz geöffnet«

Anfang 2023 begann Larry Weinstein damit, einen Dokumentarfilm über Beethovens 9. Symphonie, den Krieg in der Ukraine und die Werte der Aufklärung zu drehen. Ihn beschäftigte die Frage, ob die Menschheit den Hoffnungen und Träumen von Beethovens Neunter seit ihrer Uraufführung 1824 näher gekommen ist. Als das Weltgeschehen ­Larry ­Weinstein in seinen eigenen Film hineinzieht, wird die Frage für ihn zu einer zutiefst persönlichen.

 

ARTE Magazin Herr Weinstein, wieso handelt Ihr Film über ­Beethoven auch vom Krieg? 

Larry Weinstein Ich sehe die Neunte als eine Art Liebesbrief an die Menschheit. ­Beethovens Werk handelt von der Umarmung der gesamten Menschheit, von Freiheit und Brüderlichkeit. Aber Beethoven hatte diese Hoffnung auf eine ideale Welt, als vieles in seinem Leben und der Welt grausam und schlecht war. Seine Symphonie ist also auch ein Proteststück. Er hätte gegen den Krieg in der Ukraine protestiert, denn er geht gegen all das, für das seine Symphonie steht. Wenn wir über die Hoffnung auf eine bessere Welt sprechen, müssen wir auch über den Krieg sprechen.

ARTE Magazin Auf den Ukraine-Krieg folgte 2023 der Angriff der Hamas auf Israel. Welche Auswirkungen hatte das auf Ihr Projekt? 

Larry Weinstein Der ganze Film nahm dadurch eine gewaltsame Wendung; er wurde ungewollt zum persönlichsten Film meines Lebens. Als wir mitten in den Dreharbeiten zu „Beethovens Neun“ steckten, überfielen militante Hamas-­Kämpfer auch den Kibbuz, in dem meine Schwester ­Judih und ihr Mann Gadi lebten. Gadi erlag seinen Verletzungen. Das Schicksal meiner Schwester war lange ungewiss. Wir unternahmen alles, um an Informationen zu kommen. In diesem Moment konfrontierte mich mein Kameramann. Er sagte: „Larry, ich glaube, wir müssen die Kamera auch auf dich richten. Du solltest darüber nachdenken, einer der neun Protagonisten des Filmprojekts zu werden.“ Es war absurd. Wir drehten einen Film über den Krieg in der Ukraine – und auf einmal war ich ganz persönlich in einen Krieg verwickelt.

ARTE Magazin Wie war es für Sie, selbst Teil der eigenen Dokumentation zu werden?

Larry Weinstein Ich wollte niemals in einem meiner Filme mitspielen, das war nicht geplant. Ich mag es nicht einmal, wenn Leute Fotos von mir machen. Am Ende passierte es einfach. Wir haben meine Erfahrung und die Geschichte meiner Schwester mit den anderen Geschichten im Film verwoben. Der Prozess war schmerzhaft. Ich habe das Gefühl, mein eigenes Herz geöffnet zu haben. Aber auf eine gewisse Art und Weise war es auch therapeutisch.

ARTE Magazin Ihr Dokumentarfilm stellt die Frage, ob die Menschen den Idealen der Aufklärung nähergekommen sind. Wie optimistisch sind Sie diesbezüglich? 

Larry Weinstein Angesichts der aktuellen Situation ist es schwierig, optimistisch zu sein. Ich habe das Gefühl, dass es noch viel mehr Schmerzen geben wird, bevor es zu einer Heilung kommt. Wenn ich an die Zukunft von Israel und der Palästinenser denke, spüre ich vor allem Angst. Trotzdem glaube ich, dass die Menschen am Ende mehr von Mitgefühl als von Hass bewegt werden. Der Psychologe ­Steven ­Pinker ist eine optimistische Stimme in meinem Film. Seine Ideen sind großartig, er sieht alles aus einer größeren Perspektive. Das gibt mir sehr viel Hoffnung. Es gibt gewisse Ausreißer, Kriege und Krisen, aber im großen Ganzen sind wir weit gekommen: Wir leben doppelt so lange wie die Menschen zu ­Beethovens Zeit, Kriege, die damals zum Alltag gehörten, betrachten wir heute als eine Abnormalität, die Sklaverei ist illegal. Diese Verbesserungen sind kein Zufall, sondern ein Verdienst der Aufklärung.

Zur Person
Larry Weinstein, Regisseur

Der kanadische Filmemacher ist bekannt für seinen assoziativen und experimentellen Regiestil. Das Hauptthema seiner rund
40 Dokumentarfilme: Musik.