Auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof fühlen sich Besucher oft wie auf dem Meer, einem Wiesenmeer. Mit den Häusern der angrenzenden Quartiere als ferne Gestade. Ließe es sich fluten, entstünde eine Wasserfläche von der doppelten Größe der Hamburger Außenalster. Ideen für das 300-Hektar-Areal hat es viele gegeben, seit der traditionsreiche Airport mit dem Kürzel „THF“ 2008 geschlossen wurde. Ein Bassin war mit dabei. Und weniger ernst gemeinte, wie die eines gut 1.000 Meter hohen, künstlich aufgetürmten Doppelgipfels namens „The Berg“. 16 Jahre später wirkt das Tempelhofer Feld beinahe so, als hätte eben die letzte Maschine von einer der Startbahnen abgehoben. Das liegt an einem Volksentscheid von 2014: Er sorgte dafür, dass „das Feld“, wie es seine Fans nennen, frei bleibt. Gemeinschaftlich gärtnern, alternative Kultur- und Bildungsangebote, Sport, aber: keine Bebauung. Vorerst jedenfalls.
Das riesige Flughafengebäude am nordwestlichen Rand des weiten, platten Runds scheint über die Jahre ebenfalls kaum verändert. Ein mehr als einen Kilometer langer Koloss, Zeugnis des nationalsozialistischen Gigantismus und „Welthauptstadt Germania“-Wahns, nie ganz fertiggestellt. Wofür der Erinnerungsort noch alles steht, zeigt die ARTE-Dokumentation „Flughafen Tempelhof: Tor zur Freiheit“: Luftbrücke während der Berlin-Blockade 1948/49, DDR-Fluchten, West-Berliner Sprungbrett in die Welt. Als „vielschichtig in seiner Geschichte“ bezeichnet Heinz Jirout das „unbequeme Erbe“. Er ist Denkmalkoordinator der Tempelhof Projekt Gesellschaft, die seit 2011 im Auftrag des Berliner Senats für Europas größtes Baudenkmal zuständig ist. Eine Mammutaufgabe.
In Zukunft soll daraus ein „Stadtquartier für Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft“ werden. Zurzeit belegen Berliner Behörden den weitaus größten Teil der Büros. Dazu finden Messen und Konzerte statt, vor allem in den Hangars. Ein Drittel des Gebäudes steht als „Baureserve“ überwiegend leer. Vor fünf Jahren formulierten die Entwickler ihre „Vision 2030+“, in der viel von Experiment und Unfertigem die Rede ist. Aber auch davon, dass zunächst alles saniert werden muss, was nach letzten Schätzungen zwei Milliarden Euro kostet. Geld, das Berlin nicht hat. Das Projekt sei generell chronisch unterfinanziert, moniert Theresa Keilhacker. Die Präsidentin der Architektenkammer Berlin sieht den Ex-Flughafen „politisch abgeschrieben“. Das Mehrgenerationenprojekt entziehe sich Legislaturperioden, im Koalitionsvertrag der CDU-SPD-Landesregierung von 2023 stehe wenig zu Tempelhof. „Das sagt schon alles“, so die Expertin, die für eine kleinteilige Entwicklung plädiert und dafür, „einfach mal irgendwo anzufangen“. Man solle Tempelhof ein Stück weit von der Politik abkoppeln und die Zivilgesellschaft stärker einbeziehen – mit Stimmrecht im Aufsichtsrat der Projektgesellschaft. Vorbild ist das „Haus der Statistik“ am Alexanderplatz: Der Komplex aus DDR-Zeiten wird gerade saniert und bietet, genossenschaftlich organisiert, kulturellen und sozialen Initiativen Raum. Eine gemeinwohlorientierte Quartiersentwicklung in hauptstädtischer Top-Lage, wenngleich mit deutlich kleineren Dimensionen.
Pioniere für den Monumentalbau
„Pioniernutzungen“, wie sie auf dem Tempelhofer Feld möglich sind, wünscht sich Theresa Keilhacker auch für den monumentalen Flughafenbau nebenan. Fachlich und finanziell unterstützt, mit Mut und Offenheit zum Austoben. Das Gebäude müsse sich öffnen, findet die Architektin, und rund um die Uhr bespielt werden, „dann wird ein Quartier lebendig“. Vieles sei dort denkbar: Clubs, Werkstätten, Wohnen. Manchmal kommt der Input auch von weiter her. Als die Londoner Architectural Association School of Architecture jüngst Studierende zum Wettbewerb nach Tempelhof einlud, saß Keilhacker in der Jury und sah die „tollsten Low-Budget-Konzepte“. Es seien Ansätze dabei gewesen, die man übermorgen umsetzen könnte.
Zurzeit verlagert sich das öffentliche Interesse wieder Richtung Feld. Mit Sorge sehen jene, die die Fläche uneingeschränkt als Freiraum für Stadtgesellschaft und -klima erhalten wollen, neue politische Anläufe zu einer teilweisen Bebauung. Bereits geändert wurde das Tempelhofer-Feld-Gesetz von 2014, um zusätzliche Unterkünfte für Geflüchtete aufstellen zu können. Bislang reicht der Platz für 2.700 Menschen, 6.000 könnten es werden. Nutzungskonflikte bleiben nicht aus. Die Komische Oper etwa, für die Tempelhof Ausweichspielstätte ist, muss mit einem kleineren Hangar für Händels „Messias“ vorliebnehmen – eine Geschichte von Krise und Auferstehung.