Vor der US-Wahl im November hörte man sie wieder, vor der Bundestagswahl ebenfalls: lautstarke Warnungen, dass die Videoplattform TikTok noch massiver als andere soziale Medien zur Polarisierung von politischen Debatten beitrage und demokratische Wahlen zugunsten von Radikalen beeinflusse. Nun wurde Donald Trump, der auf TikTok doppelt so viele Follower hat wie Kamala Harris, wiedergewählt. Und bei der Bundestagswahl verdoppelte die in Teilen rechtsextreme AfD, die auf TikTok seit Jahren nachweislich erfolgreicher als alle anderen Parteien agiert, ihre Wählerschaft. Wissenschaftliche Studien zum direkten Einfluss von TikTok liegen zwar noch nicht vor. Aber sowohl Trump als auch die AfD konnten bei jungen Wählern punkten, die zur Kernzielgruppe der App zählen.
Wie konnte die Plattform des chinesischen Konzerns ByteDance überhaupt ein so starker Einfluss auf die Meinungsbildung werden? Um das verständlich zu machen, ergründet die ARTE-Dokumentation „TikTok, die mächtigste App der Welt“, was die Plattform von sozialen Medien der USA unterscheidet, darunter Instagram, Facebook, YouTube und Snapchat. Ein entscheidender Faktor ist der Algorithmus der App, die in Deutschland seit 2018 verfügbar ist: Mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) – speziell: Machine-Learning-Verfahren – analysiert TikTok das User-Verhalten in Echtzeit und erstellt einen personalisierten „Für dich“-Feed. Anders als bei Instagram oder Facebook werden dessen Inhalte unabhängig von bestehenden Freunden oder anderen Verbindungen vorgeschlagen. Dadurch erreicht TikTok eine extrem individualisierte Nutzerbindung und Viralität, da selbst neue Accounts mit wenig Followern rasant große Reichweiten erzielen können.
Besonders kontroverse – oder auch: durchgeknallte – Inhalte belohnt TikToks Algorithmus: Auf diesem Weg werden über die App immer wieder Tanz- und Mutprobe-Trends zu millionenfach geteilten Jugendphänomenen; aber auch radikale politische Meinungen gelangen schnell aus der Nische in den Mainstream. Die Krux: ByteDance ist gesetzlich verpflichtet, alle Nutzerdaten an das Regime in China weiterzugeben. In ihrer Multimedia-Reportage „Love, Hate or Fear It, TikTok Has Changed America“ beschreibt Sapna Maheshwari in der New York Times die Anfänge des TikTok-Hypes so: „Die Fans flüsterten ehrfürchtig, dass der Algorithmus sie besser kannte als sie sich selbst.“ Jedes noch so kleine Datendetail habe der Algorithmus aufgenommen und alles, was Nutzende übersprungen, gelikt oder geteilt hätten, sei direkt „in die wahnsinnig gewohnheitsbildende ,Für dich‘-Seite hineingespuckt worden“. Das Ziel: perfekt zur Stimmung passende Unterhaltung. Die Musik, die wir hören, die Filme, die wir sehen, die Verschwörungen, an die wir glauben, die Art und Weise, wie wir über den Erfolg eines Produkts entscheiden, und wer als Promi gilt – „all das wird seitdem von TikTok beeinflusst, im Guten wie im Schlechten“, so Maheshwari.
Digitalexperten warnen dabei schon länger: Der Erfolg der Video-App, die derzeit vor allem von 18- bis 30-Jährigen, also der sogenannten Generation Z, genutzt wird, sei womöglich nur der erste Baustein einer langfristigen Digitalstrategie made in China. Und mit der könnte es sich verhalten, wie mit dem sanftmütigen Lächeln, für das Staatschef Xi Jinping bekannt ist: Vordergründig wirkt alles wie ein freundliches Miteinander, aber tatsächlich geht es um die systematische Verbreitung von chinesischen Interessen – und die Schwächung liberaler Demokratien und ihrer Werte. „Wenn man bereit ist, mit aggressiven Lügen zu arbeiten, ist TikTok das beste Propagandainstrument der Welt“, urteilt Digitalexperte Sascha Lobo in seiner Spiegel-Kolumne.
Bei den Nutzerzahlen liegt TikTok derzeit mit rund 1,6 Milliarden monatlich aktiven Usern auf Platz fünf im Ranking der erfolgreichsten sozialen Medien – hinter Facebook (3,1 Milliarden), YouTube (2,7 Milliarden) sowie WhatsApp und Instagram (je 2,0 Milliarden). Da die User der App besonders jung sind, prognostizieren Analysten TikTok jedoch ein deutlich stärkeres Wachstumspotenzial für die nächsten Jahre als den länger etablierten digitalen Mitbewerbern aus den USA.
Auch Journalist und KI-Experte Janosch Delcker widmet sich in seinem Buch „Der Gedanken-Code“ (2024) dem Phänomen TikTok. Sein Fokus: die Herausforderungen, die auf Nutzende zukommen, wenn sich bei sozialen Medien sogenannte Mind-Reading-AI durchsetzt. Gemeint ist künstliche Intelligenz, die in Kombination mit Gehirn-Computer-Schnittstellen – wie sie etwa Elon Musks Unternehmen Neuralink entwickelt – sogar menschliche Gedanken in Echtzeit erfasst und verarbeitet. „Apps wie TikTok sind Vorläufer der Mind-Reading-AI“, schreibt Delcker und zeigt auf, wie an der neuen Technik mit Hochdruck gearbeitet wird. Für einen langfristig gesunden Umgang mit TikTok & Co. empfiehlt er die Förderung von KI-Kompetenz – und stellt dazu passende Methoden vor. Ein bewussterer Konsum von „Dopamin-Fabriken“, wie Delcker soziale Medien nennt, zählten ebenso dazu wie „digitales Fasten“, also die zeitweise Entwöhnung von Lieblings-Apps.