Als Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1958 den Nordosten Frankreichs durchquert, um General Charles de Gaulle erstmals in dessen Landhaus zu treffen, sind die Wunden allgegenwärtig spürbar. Die französische Landschaft ist übersät mit Denkmälern für die 1,4 Millionen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg unter der Trikolore gefallen sind. Die Narben des Zweiten Weltkriegs sind brennend frisch: Besatzung, Kollaboration und Shoah haben die Franzosen vor moralische Dilemmata gestellt, die sie tief gespalten haben, in einem Klima aus Verrat, Scham und Demütigung.
In Kai Wessels Film „An einem Tag im September“ über das historische Treffen zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, den ARTE im September zeigt, verbietet sich eine Nebenfigur, die Köchin des Generals, im Namen der Diplomatie zu schweigen. Sie weigert sich für Adenauer zu kochen – weil er ein „Boche“ sei, wie Deutsche damals diffamierend genannt wurden. Ihre Wut erinnert mich an eine Großtante, die meiner Mutter noch 1969 Schmähbriefe schrieb, als diese ihre Hochzeit mit einem Deutschen – meinem Vater – ankündigte: „Was muss ich da hören, du heiratest einen Boche, das ist eine Schande für die Familie. Ich wusste, dass es Schwachsinnige in der Familie gibt, aber nicht, dass es eine Verrückte gibt […]. Ich glaube, es gibt genug Franzosen, dass du nicht diese dreckige Rasse heiraten musst.“
Allzu oft wird vergessen: Die Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Krieg grenzt an ein Wunder – geschah sie doch zwischen zwei Gesellschaften, die durch einen menschlichen und moralischen Schiffbruch vernichtet wurden, ausgelöst durch den hegemonialen Rausch von Männern. Sie beweist, dass selbst zwischen Todfeinden Versöhnung möglich ist. Dieses Modell ist nicht nur ein Symbol der Hoffnung und der Ausgangspunkt für ein stabiles Europa, sondern es liefert bis heute wertvolle Schlüssel, um tief verwurzelte Feindseligkeiten zu überwinden.
Lange nach dem Krieg lebte die deutsche Gesellschaft in der Verleugnung ihrer Mitverantwortung an den unsagbaren Verbrechen der Nazis. Es galt als unhöflich, sein Gegenüber zu fragen, was er im „Dritten Reich“ getan hatte, oder die vorherrschende Erzählung infrage zu stellen: Die meisten wollten nichts gesehen, nichts gehört und die anderen nur Befehle befolgt haben. Die Deutschen schafften es, sich selbst als Opfer darzustellen – ein Volk, dessen Land zerstört, bombardiert, amputiert und geteilt wurde. Als 1950 die jüdisch-deutsche Politologin Hannah Arendt aus dem US-Exil ihr Heimatland besucht, ist sie entsetzt über eine Bevölkerung, die in Selbstmitleid erstarrt ist und keinerlei Schuldgefühle zeigt. Die Entfremdung Deutschlands von der Menschlichkeit scheint zu jener Zeit unüberwindbar.
Doch zwei Faktoren werden den Lauf der Geschichte verändern: visionäre Staatschefs und eine Jugend, die den Wandel will. Der deutsche Kanzler, im Film brillant gespielt von Burghart Klaußner (siehe auch Interview), hat die schwierigste Aufgabe. Selbst Opfer des Nationalsozialismus, muss Adenauer die Glaubwürdigkeit eines Volkes wiederherstellen, das Adolf Hitler zugejubelt hat – um es aus der internationalen Isolation zu retten, während die sowjetische Bedrohung an den Grenzen der Bundesrepublik lauert. Um zu zeigen, dass aus der Asche des Totalitarismus ein neuer demokratischer Rechtsstaat entstehen kann, erkennt der Christdemokrat die historische Schuld des deutschen Staates an den NS-Verbrechen an und zahlt – gegen den Widerstand seiner eigenen Partei – hohe Entschädigungen an Israel und die Jewish Claims Conference, die die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus vertritt.
De Gaulle wiederum, im Film gespielt von Jean-Yves Berteloot, braucht Deutschland, um dem wachsenden Einfluss der USA in Europa entgegenzuwirken und Frankreich neue europäische Perspektiven zu eröffnen – in einer Zeit, in der das Land durch die fortschreitende Dekolonisierung und den Algerienkrieg an globaler Bedeutung verliert. Doch über strategische Interessen hinaus entsteht zwischen den beiden Männern etwas Tieferes: eine Freundschaft, gegründet auf gemeinsamen Wunden und Werten. Dieses emotionale Element, entscheidend für jeden Versöhnungsprozess, lässt de Gaulle an das neue Deutschland glauben.
Brücken bauen: Auf die Jüngeren kommt es an
Aber Staatschefs allein schreiben keine Geschichte. Sie können Völker nicht zur Versöhnung zwingen. Diese muss von zivilgesellschaftlichen Akteuren getragen werden – von Medien, Bildung, Kulturschaffenden und der Wirtschaft. Der Impuls hängt von der Bereitschaft der jungen Generation ab, das Kriegsbeil zu begraben. Im Film verkörpern zwei Journalistinnen – eine Französin und eine Deutsche (gespielt von Nora Turell und Nadja Sabersky) – diesen Geist. Sie träumen von einem grenzenlosen Europa, wie jene Studierenden, die 1950 die Grenzposten zwischen Frankreich und Deutschland stürmen und „Es lebe Europa!“ rufen. Dasselbe Ideal bewegt auch meinen Vater, Sohn eines NSDAP-Mitglieds, als er 1959 per Anhalter durch Frankreich reist. „Die einen luden mich zum Übernachten ein“, erinnert er sich, „die anderen warfen mich aus dem Auto, als ich sagte, ich sei Deutscher – aber ich verstand sie.“ Er begegnet meiner Mutter, Tochter eines Gendarmen unter dem Vichy-Regime, das mit dem Dritten Reich kollaborierte. Wie sie bauen Millionen junger Menschen Brücken zwischen den beiden Ländern – das Fundament eines entstehenden Europas.
Anfangs beruht die Versöhnung auf Vergessen. In Deutschland will eine Mehrheit – auch die Sozialdemokraten – „einen Schlussstrich ziehen“. Ehemalige Nazis werden massenhaft amnestiert und wieder in staatliche und wirtschaftliche Strukturen integriert. Adenauer kommentiert lakonisch: „Warum das schmutzige Wasser wegschütten, wenn man kein sauberes hat?“ In Frankreich bemüht sich de Gaulle, die Dämonen von Vichy zu verdrängen, und nährt den Mythos eines mehrheitlich widerständigen Frankreichs. Doch wie lange kann eine Freundschaft auf Verdrängung und Leugnung bestehen? Einige Deutsche, wie der Staatsanwalt Fritz Bauer, erkennen: Um eine gesunde Demokratie zu bauen, muss man das Übel an der Wurzel packen und sich der Vergangenheit mutig und klar stellen. In den 1960er Jahren fordern immer mehr junge Deutsche die Aufklärung über die Mitverantwortung an den NS-Verbrechen. Sie stellen ihre Eltern zur Rede. Mein Vater wirft meinem Großvater vor, die Not der Juden ausgenutzt zu haben, indem er 1938 einer jüdischen Familie ein Unternehmen zu einem Spottpreis „abgekauft“ hat. Der Bruch zwischen den Generationen ist unvermeidlich und schmerzhaft – es ist der Preis für eine stabile Demokratie. Jahrzehnte später wird auch Frankreich seine Verantwortung für die Verbrechen der Kollaboration mit den Nazis anerkennen, insbesondere für die Shoah.
Heute ist die deutsch-französische Freundschaft eher komplex als harmonisch. Sie wird überschattet von divergierenden wirtschaftlichen und politischen Praktiken sowie einem Ungleichgewicht zugunsten Deutschlands. Seit der Wiedervereinigung und der EU-Erweiterung ist Deutschland die führende politische und wirtschaftliche Macht Europas – und könnte seit seiner jüngsten Kehrtwende in der Verteidigungspolitik bald auch die größte konventionelle Armee stellen. Dennoch fehlen ihm die Nuklearwaffen, die Frankreich einen wesentlichen strategischen Vorteil verschaffen. Jenseits dieser Machtasymmetrie sind es jedoch die existenziellen Herausforderungen, denen Europa heute gegenübersteht – innen wie außen –, die dazu einladen, die Exklusivität der deutsch-französischen Beziehung neu zu denken. Die Priorität liegt nun darin, den Zusammenhalt des gesamten Kontinents zu stärken – nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern vor allem unter den Bevölkerungen. Viele Europäer sehnen sich nach einem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Werte- und Lebensgemeinschaft, die aus einer jahrtausendealten, geteilten Geschichte erwachsen ist. Um ein europäisches Kollektivgedächtnis zu schaffen und Erinnerungen miteinander zu versöhnen, steht uns eine fruchtbare Inspirationsquelle zur Verfügung: die deutsch-französische Freundschaft.
Warum das schmutzige Wasser wegschütten?
Interview von Bernd Skischally
»Er wollte die Annäherung«
Auch wenn sich die Unterstützung für den ersten Kanzler der BRD in seiner Familie in Grenzen hielt – beschäftigen musste sich Burghart Klaußner schon früh mit ihm. „Mein Vater brüstete sich gerne damit, dass er am gleichen Tag Geburtstag hatte wie Konrad Adenauer.“ Mütterlicherseits gab es andere Präferenzen: „Meine Mutter ging bruchlos vom Verehren von Adolf Hitler zum Verehren von Willy Brandt über – das mag damals, vor allem in Berlin, manchen so gegangen sein, sie empfanden das als eine Art Reinwaschung.“ In Kai Wessels Historienfilm „An einem Tag im September“ verkörpert Klaußner nun Altkanzler Adenauer zur Geburtsstunde der deutsch-französischen Freundschaft.
ARTE Magazin Herr Klaußner, Sie sind Jahrgang 1949 und haben Konrad Adenauer noch bewusst im Amt erlebt. Wie erinnern Sie sich an diesen Mann?
Burghart Klaußner Er wirkte auf mich schon immer wie ein Ewigkeitsmonument. Adenauer war dauernd präsent und machte viel Eindruck – mit seiner rheinischen Art, seinem Katholizismus und seinem manchmal selbstherrlichen Auftreten. Natürlich erinnere ich mich vor allen an seine Stimme; sie war oft im Radio zu hören, für uns das wichtigste Medium damals.
ARTE Magazin Sie spielen Adenauer auf einer denkbar heiklen Mission: Er sollte die Franzosen, allen voran ihr Staatsoberhaupt, überzeugen, dass die Barbarei der Nazis überwunden war und man auf Deutschland zählen kann. Was hat ihn angetrieben?
Burghart Klaußner Das Wichtigste: Er sollte nicht nur, er wollte! Adenauer war unter den Politikern der Bundesrepublik sicher derjenige, der am meisten an der deutsch-französischen Annäherung interessiert war. Für ihn als Rheinländer ging es natürlich auch um die persönliche, direkte Nachbarschaft. Ihm war die Öffnung nach Westen beispielsweise viel wichtiger als die ostpreußischen Provinzen.
ARTE Magazin Rein optisch sehen Sie Adenauer nicht besonders ähnlich, trotzdem verkörpern Sie den Altkanzler überzeugend. Wie gelingt so etwas?
Burghart Klaußner Nach den Biografien, die ich gelesen habe, war Adenauer vor allem eines: relativ einsam. Er hatte das Problem, dass seine Frau bald nach dem Krieg, 1948, gestorben ist, und auch sein hohes Alter machte ihn im Laufe seiner Amtszeit zum Einzelgänger. Ich habe versucht, mich unter diesem Aspekt in ihn hineinzuversetzen. Als Klaußner habe ich den Eremit ja selbst im Namen verankert.
ARTE Magazin Historische Figuren liegen Ihnen: In „Der Staat gegen Fritz Bauer“ spielen Sie den bekannten Nazi-Jäger, in „Elser – Er hätte die Welt verändert“ den SS-Verbrecher Arthur Nebe. Was reizt Sie an solchen Rollen?
Burghart Klaußner Ich bin ja der Meinung: Die Geschichte schreibt die besten Geschichten. Mit zunehmender Berufserfahrung wird man der fiktionalen Sachen leichter überdrüssig. Im historischen Material gibt es hingegen unendlich viel zu entdecken und immer wieder Potenzial für Berührungsenergie.
ARTE Magazin In der Rückschau auf die historischen Personen, aber auch beim Blick auf die Filmrollen fällt die staatsmännische Würde auf, die de Gaulle und Adenauer ausstrahlen. Warum gelangt Macht heute vermehrt in die Hände von so gegensätzlichen Charakteren wie Donald Trump?
Burghart Klaußner Was das Bürgerliche dieser Welt ausmachte, aus der de Gaulle und Adenauer gemeinsam schöpften, ist ja die Form, wie man miteinander umgeht. Und das war umso wichtiger, weil man damals versuchte, gegen die vorangegangene Barbarei – den schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte – irgendwie Fassung zu finden. Wie existenziell gefährlich es ist, wenn Machthaber jegliche Fassung verlieren, hatte man ja an Adolf Hitler gesehen. Wir konnten es schon als Kinder nicht begreifen, wie unsere Eltern und das ganze Volk diesem Mann, der auftrat wie ein Geisteskranker, verfallen konnten.








