»Schäbiger Umgang«

Bürokratische Hürden machen es Ortskräften aus Afghanistan schwer, nach Deutschland zu gelangen. Zudem boykottieren die Taliban das Notfallprogramm des Auswärtigen Amtes.

Menschenmenge vor einer Kam Air Maschine
Chaos in Kabul: Flüchtende besetzen eine Maschine von Kam Air. Foto: Wakil Kohsar / AFP / Getty Images

Bei Marcus Grotian, Gründer des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, stehen die Telefone nicht still. Ein Jahr nach dem Abzug aus Afghanistan ist seine Organisation immer noch im Dauereinsatz.

arte Magazin Herr Grotian, seit der Machtübernahme der Taliban verstecken sich Tausende ehemalige Ortskräfte weiterhin in Afghanistan. Was wissen Sie über deren Situation? 

Marcus Grotian Dass sie sich verstecken müssen, sagt doch schon alles. Fast täglich erhalten wir Hilferufe von dort. Menschen, die sich nicht aus ihren wechselnden Verstecken heraustrauen, weil sie um ihr Leben bangen, suchen verzweifelt nach Wegen, wie sie und ihre Familien das Land verlassen können. Für die Taliban sind sie Spione und Verräter. Viele ehemalige Ortskräfte schweben akut in Lebensgefahr.

arte Magazin Die Menschen könnten sich an ihre ehemaligen Arbeitgeber wenden: etwa das Auswärtige Amt, die Bundeswehr oder die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ). Weshalb melden sie sich lieber bei Ihnen?

Marcus Grotian Es hat sich wohl herumgesprochen, dass unser Netzwerk unbürokratisch Hilfe leistet. Seit August 2021 haben wir mehr als 330 Menschen aus Afghanistan gerettet und nach Deutschland gebracht. Hunderte andere haben wir bei der Flucht in die Nachbarländer unterstützt – logistisch, technisch, finanziell.

Kabul Airport – Flucht aus Afghanistan

Dokumentarfilm

Dienstag, 27.9. — 20.15 Uhr

bis 25.3.2023 in der Mediathek

Menschenmenge in einer US Air Force Maschine
Hunderte Zivilisten verlassen in einem Flugzeug der US Air Force Afghanistan. Foto: U.S. Air Force / UPI Photo via Newscom picture alliance

arte Magazin Laut Angaben der Bundesregierung gibt es Aufnahme­zusagen für mehr als 33.000 Menschen aus Afghanistan. Fast 12.000 von ihnen warten zurzeit auf die Evakuierung. Warum geht das nicht schneller?

Marcus Grotian Das liegt unter anderem an den Ausreiseformalitäten. Ortskräfte mit Aufnahmezusagen können das Land nur verlassen, wenn sie gültige Reisepässe für sich und ihre Familienmitglieder haben. Ein Pass kostet umgerechnet rund 500 Euro. Die durchschnittliche afghanische Familie besteht aus sechs Personen. Viele ehemalige Ortskräfte können sich die hohen Kosten nicht leisten.

arte Magazin Ist das die einzige Hürde?

Marcus Grotian Keinesfalls. Wer eine Aufnahmezusage und einen Pass besitzt, kann nicht einfach zum Flughafen in Kabul fahren und nach Deutschland fliegen. Man benötigt deutsche Visa für sich und die Angehörigen. Dazu muss die gesamte Familie in ein Nachbarland reisen, wofür ebenfalls Visa nötig sind. Der deutsche Visaprozess dauert dann einige weitere Wochen. Eine nachträgliche vollständige Erstattung des Aufwands für Pässe, Visa und Reisekosten durch die Bundesregierung gibt es nicht. Pro Pass werden höchstens 50 Euro übernommen.

arte Magazin Nach welchen Kriterien werden die Aufnahmezusagen erteilt?

Marcus Grotian Entscheidend ist, ob während der Dienstzeit oder in den zwei Jahren darauf eine Gefährdungsanzeige eingereicht wurde. Wer zum Beispiel 2018 aufgehört hat, für Deutschland zu arbeiten, und erst 2021 eine solche Anzeige erstattete, hat kaum eine Chance, aufgenommen zu werden. Hinzu kommt, dass afghanische Ortskräfte, die vor 2013 für deutsche Dienststellen tätig waren, grundsätzlich ausgeschlossen sind. Es heißt, dass Arbeitsverträge aus dieser Zeit nicht mehr vorhanden seien.

Ein Kind wird über eine Absperrung an Soldaten überreicht
Ein US-Soldat rettet ein Kleinkind am Zaun des Hamid-Karzai-Flughafens. Foto: Omar Haidiri / AFP / Getty Images

arte Magazin Es soll Fälle geben, bei denen Gefährdungs­anzeigen dennoch nicht ausgereicht haben. Stimmt das?

Marcus Grotian Es gibt etliche dieser Fälle. Etwa den von ­Ahmad ­Sultani, der zehn Jahre als Ortskraft für Deutschland tätig war. Obwohl er sieben Gefährdungsanzeigen gestellt hatte, wurde seine Aufnahme abgelehnt. Eine niederländische Regierungsbehörde rettete ihn schließlich, obwohl er nur kurz für sie gearbeitet hatte. Im Februar rief Sultani bei mir an und erzählte, dass nun auch Deutschland seiner Aufnahme zustimmte – da war er bereits seit Monaten in unserem Nachbarland in Sicherheit.

arte Magazin Der Koalitionsvertrag enthält ein Bundesaufnahmeprogramm, das bis heute auf Eis liegt. Inzwischen hat das Auswärtige Amt aber ein Notfallprogramm aufgelegt, um afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personen eine unbürokratische Ausreise zu ermöglichen.

Marcus Grotian Wie ich die Planungen der Regierung verstehe, sind Ortskräfte – ob antragsberechtigt oder nicht – vom Bundesaufnahmeprogramm ausgeschlossen. Und das Notfallprogramm wird derzeit von den Taliban torpediert: Sie lassen die Busse mit Flüchtenden, deren Anträge bereits bewilligt wurden, nicht bis zur Grenze nach Pakistan durch.

arte Magazin Ein Untersuchungsausschuss soll nun im-merhin aufarbeiten, was in Afghanistan alles schieflief. 

Marcus Grotian Das lässt zumindest hoffen, dass die Behörden mit anderen Ortskräften, etwa in Mali, nicht genauso schäbig umgehen. Wir brauchen ein besseres Konzept, wie wir mit diesen staatlichen Angestellten künftig verfahren wollen. Ob der Wille zur Aufarbeitung vorhanden ist oder ob die ministerienübergreifende Verantwortungsdiffusion einfach in eine neue Runde geht, wird sich zeigen müssen.

Zur Person
Marcus Grotian, Gründer und Vorstand des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte
Der seit Anfang 2022 auf eigenen Wunsch beurlaubte Hauptmann der Bundeswehr setzt sich für die Sicherheit, Aufnahme und Integration ehemaliger Ortskräfte deutscher Dienststellen ein.