Das Mädchen aus den Alpen

In der Schweiz erdacht, in Japan produziert: Wie die in idyllischer Bergkulisse spielende Zeichentrickserie „Heidi“ ab den 1970er Jahren zum Welterfolg wurde. 

Illustration Heidi auf der Schaukel
Illustration: Mit freundlicher Unterstützung © Studio100Media GmbH

Sie sitzen neben einer rustikalen Holzhütte auf einer Blumenwiese – eingerahmt vom majestätischen Alpen-Panorama und von einem tiefblauen Himmel: der Almöhi, der Geißenpeter samt Zicklein und die kleine Heidi. Jeder kennt die zu dieser Szene gehörende Zeichentrickserie, die europäischer nicht sein könnte und Kinder wie Erwachsene seit fast 50 Jahren begeistert. Dabei lautet der Original-Titel der Fernsehproduktion „Arupusu no shōjo Haiji“, übersetzt: „Heidi, das Mädchen aus den Alpen“. Denn die bekannten Bilder zu „Heidi“ sind ein Import aus Japan, der 1971 vom deutschen Fernsehen in Auftrag gegeben wurde. Um zu ergründen, wie daraus ein Welterfolg werden konnte, blickt ARTE im Juni auch auf die Frau, aus deren Feder die ursprüngliche Geschichte stammt.

Im Jahr 1880 hatte die Schweizer Schriftstellerin ­Johanna ­Spyri den Roman „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ veröffentlicht, gefolgt vom zweiten Band „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“. Die Kindergeschichten erzählen von dem fünfjährigen Mädchen Adelheid, das seine Eltern verliert, und von seiner Tante Dete zum einsiedlerischen Großvater, dem Almöhi, auf eine Schweizer Alp oberhalb von Maienfeld geschickt wird. Mit den „Heidi“-Büchern entdeckten auch viele erwachsene Lesende ihre Sehnsucht nach den Bergen, weswegen sie bis heute zu den bedeutendsten Kulturgütern der Schweiz zählen. Internationale Popularität erlangten die Spyri-­Romane vor allem in Japan – dort zählt „Heidi“ zu den bestverkauften fremdsprachigen Literaturerzeugnissen. Was erklärt, warum später ausgerechnet drei Japaner der gezeichneten „Heidi“-Figur ihren Charakter und Charme verleihen sollten.

 

Illustration: Johanna Spyri schreibt
Illustration: Narrative Boutique:Anita Hugi:Anja Kofmel:Jotha Wüst:SSR

Heidis Alptraum

Kulturdoku

Sonntag, 4.6. — 16.40 Uhr
bis 3.7. in der Mediathek

Im Jahr 1971 gab der deutsche Medienunternehmer Leo Kirch dem bis dahin weitestgehend unbekannten japanischen Anime-­Studio Zuiyo den Auftrag für die Produktion einer Zeichentrickadaption des „Heidi“-Stoffs. Der japanische Animationsmarkt war im Vergleich zu den europäischen oder US-amerikanischen Pendants wesentlich preiswerter. Dennoch gingen die Auftraggeber ein Risiko ein: Der in Japan verbreitete Manga- und Animestil wurde in Deutschland meist als grotesk, brutal und schwer verständlich wahrgenommen. Nachdem es wenige Jahre zuvor nach der Ausstrahlung der  Anime-­Serie „Speed Racer“ (1967) in der ARD zu Elternprotesten gekommen war, musste die „Heidi“-Produktion auf opulente Spezialeffekte sowie Action-­Szenen verzichten. Das Alpenmädchen sollte auf Kinder entschleunigend wirken. Die beiden Regisseure ­Isao ­Takahata und Hayao Miyazaki – die späteren Gründer des bedeutenden Zeichentrickfilmstudios ­Ghibli – sowie der Animationsdesigner ­Yoichi Kotabe reisten daraufhin in die Schweiz. In der ARTE-Dokumentation „­Heidis Alptraum“ besucht die Filmemacherin Anita Hugl die Orte im Schweizer Kanton Graubünden, die zuerst ­Johanna ­Spyri und später den Gästen aus Japan als Inspiration diente. Aufmerksame Beobachtungen der Produzenten ermöglichten letztlich die detailreichen und liebevollen Zeichnungen der Schweizer Landschaft, die der „Heidi“-Serie ihre Einzigartigkeit verleihen. 

Die Serie lief 1974 zuerst im japanischen Fernsehen an und erlebte dort einen Boom, der mindestens zwei Jahrzehnte andauerte. „Für Kinder in Japan, die zu der Zeit kaum nach Europa reisen konnten, stellte Heidis Umgebung eine völlig andere Welt dar. Heidi war süß, oder „kawaii“, wie es im Japanischen heißt, aber trotzdem nicht dem abgehobenen europäischen Prinzessinnenklischee verhaftet“, sagt ­Kerstin ­Fooken, Juniorprofessorin für Japanologie an der Universität Hamburg: „Von der naturverbundenen Darstellung der Landschaft bis hin zu Bräuchen, Figurenkonstellationen und Esskultur gab es vieles, was die kindliche Neugier wecken konnte.“ Ab 1977 wurde „Heidi“ im ZDF ausgestrahlt und traf auch beim deutschen Publikum einen Nerv. Zu diesem Zeitpunkt feierten bereits andere in Koproduktionen entstandene Serien des japanischen Studios Zuiyo – wie „Wickie und die starken Männer“ (1974) und „Biene Maja“ (1976) – im deutschen Fernsehen große Erfolge. 

 

Porträt schwarz-weiß von Schweizer
„Heidi“-Autorin Johanna Spyri (1827–1901) wuchs in einem Dorf nahe Zürich auf und hatte immerwährend mit Depressionen zu kämpfen. Könnte es sein, dass die Figur der ­Heidi ihre Sehnsüchte widerspiegelte? Foto: BIFAB/PICTURE ALLIANCE/DPA

3D-ANIMATIONEN, PODCASTS UND DAS HEIDIDORF

Auch in der Gegenwart fasziniert Heidis Geschichte: In Maienfeld erinnert das an Johanna Spyris Erzählung angelehnte Heididorf – eine Art Freilichtmuseum – an die Romanfigur. 2015 erschien zudem eine Neuauflage der Serie als 3D-Animation. Auch mehrere Hörspiele und Podcasts erzählen von dem Mädchen aus den Alpen. „Das Heidi-Phänomen besteht weiterhin“, sagt Claudia Schweiger, Markenmanagerin von „Heidi“ beim Produktions- und Vertriebsunternehmen -Studio 100 Media in München. „Dabei geht es nicht um die Optik, sondern um die Lebenshaltung und die Werte, die ,Heidi‘ verkörpert: Sie ist immer harmonisch, bedacht und lebensfroh.“ Bald wird die „Heidi“-Serie aus Japan 50 Jahre alt. Anlässlich dieses Jubiläums ist derzeit eine neue Kinoverfilmung in Planung, die 2025 erscheinen soll.