Als der Publizist Hilmar Klute 2022 in der Süddeutschen Zeitung das Verschwinden der politisch engagierten Schriftsteller beklagte – also solcher Autoren, die wie einst Heinrich Böll in der Nachkriegszeit kompromisslos in Debatten eingreifen und als „Gewissen der Nation“ gelten –, hatte er die zahlreichen öffentlichen Interventionen von Juli Zeh vermutlich übersehen. Die 1974 in Bonn geborene Juristin ist eine Autorin, die Position bezieht. Immer wieder meldet sie sich zu gesellschaftlichen Themen zu Wort.
So reichte sie 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den biometrischen Reisepass ein, 2013 wandte sie sich mit einem offenen Brief an Angela Merkel und forderte Aufklärung über die Spähangriffe des US-Geheimdienstes NSA. Zahlreiche weitere Debattenbeiträge und TV-Auftritte bestätigen ihre Rolle als profilierte Gesellschaftskritikerin – Volker Weidermann, damals Literaturkritiker bei der FAZ, bezeichnete sie gar als „ihre eigene Gruppe 47“. Kaum ein Reizthema der letzten Jahre ging an ihr vorbei – von Corona-Maßnahmen über den Krieg in der Ukraine, bis zu den Bauernprotesten. Werke wie „Corpus Delicti“ (2009), „Unterleuten“ (2016) und „Leere Herzen“ (2017) behandeln aktuelle Fragen rund um Überwachung, Freiheitsverlust und gesellschaftliche Spaltung – und lösen teils Kontroversen aus.
Die Frage, ob sich Autorinnen und Autoren gesellschaftlich einmischen sollen, ist umstritten: Manche fordern Engagement, andere warnen vor moralisierender Literatur, die ihre Kompetenzen überschreitet. Juli Zeh sieht Schriftsteller klar in der Verantwortung, sich in gesellschaftliche Diskussionen einzubringen. Bemerkenswert ist dabei auch Zehs Doppelrolle im öffentlichen Leben. Sie ist promovierte Juristin und seit 2019 ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht Brandenburg. Aufgewachsen in einer politikbegeisterten Familie – ihr Vater, der Jurist Wolfgang Zeh, war zeitweilig Direktor des Deutschen Bundestages –, entwickelte sie früh ein Gespür für politische Zusammenhänge und den Drang zum Widerspruch. Den demokratischen Streit begreift sie als Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft: „Zu viel Harmonie im öffentlichen Diskurs macht mich unruhig“, sagt sie im Porträt „Juli Zeh – Vom Schreiben und Streiten“, das ARTE im Oktober zeigt. Die Sorge um eine bedrohte Debattenkultur prägt ihr öffentliches Wirken maßgeblich.
VON PFERDEN LERNEN
Doch damit macht sie sich nicht nur Freunde. Schon früh wurde ihr, etwa von Ulrich Greiner in der ZEIT, „altkluges Strebertum“ attestiert. Die Kontroverse um ihren Roman „Über Menschen“ (2021), der während des ersten Corona-Lockdowns spielt und Rechtsradikalismus thematisiert, zeigt zudem die Herausforderung, politische Themen literarisch zu verhandeln, besonders deutlich. Nach Erscheinen brach in den sozialen Medien eine Empörungswelle los. Zeh wurde als „Nazi-Versteherin“ attackiert und sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, Rechtsextremismus zu verharmlosen. Die Politologin Katharina Nocun sprach von einer „Radikalisierung“ der Autorin. Zeh entgegnete, dass heute schon der Versuch, verstehen zu wollen, als moralisches Problem gelte.
Trotz der Polarisierung sieht Zeh ihre Rolle als Brückenbauerin zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen. 2018 wurde sie für ihren Einsatz für Demokratie, Freiheitsrechte und bürgerschaftliches Engagement im digitalen Zeitalter mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet – ein deutliches Zeichen dafür, dass die Figur des öffentlichen Intellektuellen keineswegs verschwunden ist. Mit ihrem analytischen, polemischen und zugleich unterhaltsamen Stil erreicht Zeh dabei ein breites Publikum, das von Leserinnen der Brigitte bis zu den Lesern der FAZ reicht, wie Tanja Dückers in der ZEIT schreibt.
Zehs Einsatz für eine offene Debattenkultur spiegelt sich auch in einer unpolitischen Leidenschaft wider: den Pferden. In ihrer „Gebrauchsanweisung für Pferde“ (2019) beschreibt sie die sensiblen Tiere als Wesen, die jede Begegnung als Einladung zum Austausch verstehen: „Guck mal, hier bin ich. Wer bist du? Können wir etwas miteinander anfangen?“ Für Zeh liegt darin ein Prinzip gelingender Kommunikation: Dialog entsteht aus Neugier und Offenheit gegenüber dem anderen. Ein Modell, von dem so mancher Empörte sicher lernen könnte.





