„Pardon, heute nur mit Reservierung.“ So wird es ab 2031 allen ergehen, die das berühmteste Gemälde der Welt im Original betrachten möchten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat entschieden, für Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ einen neuen Saal im Louvre bauen zu lassen – im Keller des Museums und mit eigenem, separatem Eingang. Alle Besucher werden außerdem einen Aufpreis zahlen, wenn sie das auf Französisch als „La Joconde“ bekannte Bild sehen möchten, das verriet die amtierende Direktorin des Louvre, Laurence des Cars, bereits. Beide Maßnahmen seien bitter nötig, um die Zukunft des Museums zu sichern, und damit hat sie sicher recht.
Die „Mona Lisa“ ist ein Magnet, der Massen von Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Statt vier Millionen – wie beim letzten größeren Umbau in den 1990ern prognostiziert – strömen heute jedes Jahr neun Millionen Besucher durch die Glaspyramide des Louvre. Zwei Drittel von ihnen möchten unbedingt das geheimnisvolle Lächeln der Seidenhändlergattin aus Florenz sehen, die vor einem halben Jahrtausend in Italien lebte. Das Aufheben, das um die „Mona Lisa“ veranstaltet wird, ähnelt einem Kult. Dass es noch immer viele gute Gründe gibt, sich mit dem Gemälde und seinem Schöpfer zu beschäftigten, unterstreicht im April eine zweiteilige ARTE-Dokumentation. Der US-amerikanische Filmemacher Ken Burns porträtiert – zusammen mit Tochter Sarah Burns und dem Co-Autor David McMahon – darin Leonardo da Vinci als Künstler und Universalgelehrten und zeigt: Beide Rollen hängen eng miteinander zusammen.
Leonardo da Vinci wurde 1452 als uneheliches Kind eines Notars in der Nähe von Florenz geboren. Er wuchs in der Stadt Vinci (daher der Name) in einer intakten Patchwork-Familie auf, konnte aber wegen seiner außerehelichen Geburt kein Notar werden. Stattdessen befasste sich schon der ganz junge Leonardo mit allem, was sein Interesse erregte. In für seine Zeit ungewöhnlichem Ausmaß hielt er eigene Gedanken, Beobachtungen, Berechnungen und Zeichnungen in Notizbüchern fest. Ähnlich wie heute in den Weiten des Internet vermischen sich in Leonardo da Vincis Notizbüchern unterschiedlichste Interessen. Themen verzweigen sich, werden liegen gelassen und wieder aufgegriffen, ohne dass es je zu einem abgeschlossenen Zustand käme – der Mann hatte sozusagen immer Hunderte Tabs offen.
„Leonardo schlägt sich mit allen Fragen dieser Welt herum“, fasst es der Regisseur und Leonardo-Bewunderer Guillermo del Toro in Burns’ Dokumentation treffend zusammen. Gerade wegen dieses Nebeneinanders kommt es einem heute so vor, als seien die Skizzen eben erst entstanden. Dieselbe Feder beschreibt von Leonardo selbst sezierte Körper und entwirft von Menschen angetriebene Flugmaschinen und Gleiter. Der Künstler erstellt Karten, konstruiert Kanonen und Panzerwagen, erfindet hydraulische Systeme, notiert Sprüche und Einkaufslisten und hält flüchtige Momente des Alltags fest, insbesondere die Mimik und Gestik von Menschen. Die wiederum will er in ihrer Funktionsweise verstehen. So zeichnete Leonardo einmal ein durchgesägtes Rückenmark und die Nerven, die es mit dem Gehirn verbinden. Denn er weiß bereits, dass die Nerven unsere Empfindungen und Bewegungen steuern. Insgesamt hat Leonardo da Vinci um die 7.000 solcher Blätter hinterlassen. Dabei ist es insbesondere das Phänomen der Bewegung, das ihn zeitlebens fasziniert, und seien diese auch noch so subtil. Aus dem Jahr 1508 stammt eine Zeichnung, in der Leonardo die Anatomie des Mundes und insbesondere die Funktionsweise der Lippen untersucht. Sie sind schwer zu sezieren. Doch „von all den Nerven und denen mit ihnen verbundenen Muskeln waren für Leonardo jene am wichtigsten, welche die Lippen kontrollierten“, fasst Leonardo-Biograf Walter Isaacson zusammen. Sofort denkt man an die Frau mit dem unergründlichen Lächeln in ihrem Glaskasten im Louvre.
Leonardo schlägt sich mit allen Fragen dieser Welt herum.
Die „Mona Lisa“ ist tatsächlich nicht denkbar ohne die Zeichnungen Leonardo da Vincis. Diese Blätter sind deshalb auch der beste Weg, einen neuen zeitgenössischen Zugang zu Leonardo zu finden, dessen Werk mehr und mehr unter der Last des eigenen Ruhms leidet. Die „Mona Lisa“ kann man im Jahr 2025 praktisch nicht mehr im Original betrachten, so sehr drängen sich die Massen um das Bild. Und als 2011 mit dem „Salvator Mundi“ ein bis dahin unbekannter Leonardo auftauchte, ist dieser mehr wegen des extremen Kaufpreises im Gedächtnis geblieben, den der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman 2017 dafür bezahlte, als wegen der künstlerischen Raffinesse des Bildes. Zumal bis heute umstritten ist, ob das Werk wirklich dem Meister zuzuordnen ist.
Trotzdem sind Leonardo da Vincis Gemälde noch nicht auserzählt. In einer amerikanischen Talkshow beschrieb Ken Burns die „Mona Lisa“ als „verkrustet mit Seepocken der Sentimentalität und Nostalgie“, betonte aber auch, dass es sich bei dem Bild „um die Quintessenz der Malerei“ handele. Tatsächlich ist das mit Bleiweiß grundierte und mit unzähligen dünnen Farbschichten bemalte Brett aus Pappelholz viel mehr als ein Porträt. Seit Beginn seiner Laufbahn beschäftigten Leonardo Phänomene, die sich in der „Mona Lisa“ verdichtet und teils auch verschlüsselt wiederfinden. Dazu zählen nicht nur die Eigenheiten der menschlichen Mimik, sondern etwa auch die Landschaft im Hintergrund, die von Leonardos Beschäftigung mit der Geologie kündet. Die italienische Geologin und Kunsthistorikerin Ann Pizzorusso will sogar den Ort identifiziert haben, vor den Leonardo sein Modell platziert hatte: Lecco am Comer See in der Lombardei. In diesem Fall würde die „Mona Lisa“ auch das Porträt einer echten Landschaft beinhalten.
„Der Mensch“, notierte Leonardo da Vinci in den frühen 1490ern, „wurde im Altertum als Welt im Kleinen bezeichnet, und dieser Name ist ganz richtig gewählt, denn wenn der Mensch aus Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht, so verhält es sich ebenso mit dem Körper der Erde.“ Dieses Prinzip einer Verbindung zwischen Mensch und Erde findet sich in der „Mona Lisa“ wieder. Weshalb es vielleicht nicht so abwegig ist, dass jeder sie einmal selbst sehen will – das Gemälde eignet sich als Spiegel für den Betrachter ebenso wie als Fenster zum Kosmos. Denn, so Leonardo an anderer Stelle: „Der Mensch ist das Abbild der Welt.“ Dass der Universalgelehrte seine Kunst zugleich als Forschung betrieb und dafür oft viel mehr Zeit brauchte als pragmatischer vorgehende Kollegen, ist der rote Faden seines Lebens. Sein berühmtes Werk „Das letzte Abendmahl“ im Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie ist auch deshalb nicht als Fresko auf einer angefeuchteten Wand entstanden, weil Leonardo für diese Technik zu langsam malte.
Wenige Jahre danach begann Leonardo mit einem Porträt der Lisa del Giocondo. Sie war die Ehefrau eines Seidenkaufmanns in Florenz, der mit Leonardos Vater geschäftlich und persönlich verbunden war. Ken Burns räumt „La Gioconda“ in seiner vierstündigen Dokumentation einen Ehrenplatz ein und hebt sich die „Mona Lisa“ für den Schluss auf. Zu Recht. In dem 77 mal 53 Zentimeter großen Gemälde kommt zusammen, was Leonardo lebenslang beschäftigte. Details sind nicht nur Details. Dass etwa das Licht von links oben auf das Gesicht der Porträtierten fällt, ist angesichts der Raumsituation (eine nach hinten offene Loggia) eigentlich widersinnig. Diese Lichtregie aber erlaubt es Leonardo, „sein ganzes Schattierungskönnen einzusetzen, um die Konturen und Formen zu erschaffen, die er benötigte“, wie sein Biograf Walter Isaacson es beschreibt. Auch dass die rechte Pupille der Dame etwas größer ist als die linke, während das rechte Auge doch direkt in die Lichtquelle blickt, erscheint wissenschaftlich nicht korrekt zu sein. „Oder wusste er“, fragt sich Isaacson, „dass auch Freude eine Erweiterung der Pupillen bewirken kann, und wollte mit der schnelleren Öffnung der rechten Pupille andeuten, dass Lisa erfreut ist, uns, ihre Betrachter, zu sehen?“
Der Bestsellerautor ist klug genug, nicht zu viel in einzelne Details des Bildes hineinzuinterpretieren. Aber untersuchen muss man sie, da Details Aufschluss über die Zusammenhänge zwischen Emotion und Physik geben. Heute weiß man etwa, dass das Lächeln der „Mona Lisa“ tatsächlich flüchtig ist – sobald unsere Augen ihren Mund nicht mehr fokussieren, wird das Lächeln deutlicher, starrt man ihn an, verschwindet es. So malen kann man nur, wenn man sowohl etwas über das Sehen weiß als auch über menschliche Anatomie und Emotionen. Das Erstaunliche an Leonardo da Vinci ist nicht nur sein unstillbarer Erkenntnisdrang, sondern die damit einhergehende Weigerung, die eigene Erfindungsgabe zu beschränken. Die Wissenschaft öffnet den Blick auf die Welt, aber das Kunstwerk folgt seinen eigenen Regeln.