»Geschichten ohne Drehbuch«

Die Serie „Nackt über Berlin“ erzählt von einem entgleisten Schülerstreich und einer Jugendromanze. Ein Gespräch mit Regisseur und Buchautor Axel Ranisch.

ARTE-Serie: Jannik (Lorenzo ­Germeno, l.) und Tai (Anh Khoa Tran, r.) nähern sich an 
Foto: Oliver-Feist_WR_Studio-tv-film

Die besten Ideen kämen ihm immer auf seinem Hausboot in Brandenburg, erzählt Axel Ranisch und lacht. Dieser Rückzugsort sei für ihn einer der wenigen Gründe, den Plattenbau in Berlin-Lichtenberg, in dem seine Familie seit Generationen lebt, ab und an mal zu verlassen. Folgerichtig spielt auch ein Großteil seiner neuen sechsteiligen Serie „Nackt über Berlin“ in einer Hochhaussiedlung. Genauer gesagt in der Wohnung des vom Leben gebeutelten Schuldirektors Jens ­Lamprecht (­Thorsten Merten). Zwei seiner Schüler sperren ihn im betrunkenen Zustand dort ein, verwanzen sein Apartment und terrorisieren ­Lamprecht mit ihrer Totalüberwachung. Tai (Anh Khoa Tran) und ­Jannik (­Lorenzo ­Germeno) wollen ihren Rektor dazu zwingen, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Nackt über Berlin

Serie

Do., 12.10. — 20.15 Uhr
bis 8.4.24 in der
Mediathek

ARTE Magazin Herr Ranisch, warum sind die Figuren Ihrer Filme so oft Sonderlinge? 

AXEL RANISCH Nun ja. Meist kann man das am besten beschreiben, was man sehr gut kennt. Ich, aufgewachsen als dickes Kind zweier Leistungssportler, schwul und ein Klassiknerd, kenne die Außenseiterrolle gut. Als ich vor etwa zehn Jahren das erste Mal über den Stoff zu „Nackt über Berlin“ nachgedacht habe, wollte ich diese Erfahrungen in eine Geschichte gießen. Ich habe dann erst einmal den gleichnamigen Roman geschrieben, der 2018 erschienen ist. Wie so oft in meinem Leben ergab sich daraus die nächste unerwartete Chance. Für die Serie brauchte ich dann einen neuen Spannungsbogen, Cliffhanger, Nebenstränge, ein visuelles Konzept, gereifte Charaktere.

ARTE Magazin Sie lassen Ihre Schauspieler gerne an ihren ­Rollen mitwirken und arbeiten teils ohne Drehbuch oder gescriptete Dialoge.

AXEL RANISCH Das stimmt. „Nackt über Berlin“ war in diesem Sinne eine Ausnahme, da es schon den Roman als Vorlage gab. In vielen anderen Projekten habe ich fast ohne Drehbuch gearbeitet. Bei der Tatort-Folge „Babbeldasch“ mit ­Ulrike ­Folkerts wusste vor Drehbeginn niemand aus dem Ensemble, wer der Mörder ist. Sich auf diese Ungewissheit einzulassen, braucht viel Vertrauen. Die Schauspieler sollen keine Dialoge auswendig lernen, sondern vielmehr reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Einander zuhören und authentisch reagieren. Um das zu fördern, drehen wir chronologisch, lassen die Proben weg, erklären den ersten Take zum Heiligtum und geben den Darstellern auch sonst alle Freiheiten, die sie brauchen. Die Improvisation ist Grundlage meiner Arbeit und war auch für „Nackt über Berlin“ wichtig. Die Schauspieler sollen uns in jeder Szene überraschen dürfen. Dafür versuche ich den Boden zu bereiten. Beim Dreh sehe ich mich im wortwörtlichen Sinne als einen Spielleiter.

ARTE Magazin Sie inszenieren ja auch Opern – zuletzt „­Hänsel und ­Gretel“ von Engelbert Humperdinck an der Staatsoper Stuttgart. Hat diese Arbeit Einfluss auf Ihre Filme?

AXEL RANISCH Die Musik steht für mich am Anfang jedes Films, ich bin ein auditiver Regisseur. Deshalb habe ich für „Nackt über ­Berlin“ die wunderbare Violinistin und Komponistin ­Martina Eisenreich gebeten, die Filmmusik zu schreiben und zusammenzustellen. Sie hat für jeden der Hauptcharaktere eine eigene musikalische Signatur entwickelt. ­Tschaikowsky zum Beispiel ist ­Janniks Lebenselixier. Klassische Musik begleitet mich seit der Kindheit. Ich liebe die Geschichten hinter den Werken, die Eigenarten der Komponisten. Ein Orchester kann so viel Kraft vermitteln, auch Größenwahn oder Spiritualität. Wenn ich Bach höre, spüre ich selbst als atheistischer Ossi ein übersinnliches Leuchten in mir.

 

ARTE-Serie: Jannik (Lorenzo Germeno, l.) und Tai (Anh Khoa Tran, r.) nähern sich an
Romanze: Jannik (Lorenzo ­Germeno, l.) und Tai (Anh Khoa Tran, r.) nähern sich an – wie Janniks Vater ­Michael bemerkt (­Devid ­Striesow) Foto: Oliver-Feist_WR_Studio-tv-film

ARTE Magazin Stichwort Mystik: Sie nutzen Träume und Halluzinationen oft als Stilmittel. Auch in „Nackt über ­Berlin“ drohen Realität und Wahn zu verschwimmen, wenn sich Schulleiter Jens Lamprecht an seine düstere Vergangenheit erinnert. Was steckt dahinter?

AXEL RANISCH Trotz meines großen Bedürfnisses nach Glaubhaftigkeit und Realismus, vor allem im Schauspiel, liebe ich die abgedrehten Momente des Lebens. Ich liebe den Kontrast zwischen Traum und Realität, zwischen Tag und Nacht. Ich liebe die inneren Stimmen, die vermeintlich fehlerhaften Signale unseres Gehirns, die wir oft nur in der Nacht wirklich wahrnehmen können. Vieles ist nicht so, wie es scheint. Das zeige ich mit dem Stilmittel des Realitätsverlustes, aber auch mit den vielen Ambivalenzen und Komplexen, die meine Figuren in sich tragen.

ARTE Magazin Die Serie thematisiert auch eine beginnende, eher ambivalente Romanze zwischen den Hauptfiguren ­Jannik und Tai.

AXEL RANISCH Ja, es geht, mehr oder weniger explizit, auch um unterdrückte Liebessehnsucht, Scham und Verwirrung – um all das, was diesem konflikthaften Entdecken des eigenen homosexuellen Begehrens bis heute oftmals vorausgeht. Ich spreche da aus langjähriger Erfahrung. Es würde mich freuen, wenn meine Filme queere Liebesbeziehungen in Film und Fernsehen noch ein Stück weiter normalisieren und die Wahrnehmung der Zuschauer auflockern würden.

ARTE Magazin Ihre Filme sind oft sehr lustig. Sie spielen mit Dialekten, Missgeschicken, Übertreibungen. Welche Rolle spielt der Humor in Ihrem Leben? 

AXEL RANISCH Ich muss sagen, je älter ich werde, desto weniger kann ich bei der Arbeit auf ein humorvolles Augenzwinkern verzichten. Meine Filme sollen Spaß machen! Ich stamme aber auch aus einer sehr humorbegabten Familie. Meine Großmutter hat noch mit 96 bei jeder Gelegenheit Witze erzählt. Wir bewältigen seit jeher allen Verdruss mit Ironie, Scherzen und Lachen.

 

Axel Ranisch, Regisseur und Buchautor
Ob als Regisseur für Film und Bühne, Romanautor oder Schauspieler – Axel Ranisch liebt die Improvisation. 2019 erhielt er für die TV-Komödie „Familie ­Lotzmann auf den Barrikaden“ den Grimme-Preis. Foto: Andreas-Pein_laif