Voller Wunder

Nena gilt als Ausnahmephänomen der deutschen Popkultur – dabei ist nicht nur der Welthit „99 Luftballons“ tiefgründiger, als viele dachten.

Sängerin Nena in schwarzer Lederjacke singend auf einer Bühne.
Auch mit Mitte 60 begeistert ­Nena ihre Fans auf der Bühne, hier bei einem Festival­konzert im dänischen Skanderborg im zurückliegenden Sommer. Foto: picture alliance/Gonzales Photo/Rolf Meldgaard

Das Lied, um das es hier zunächst gehen soll, ist mehr als 40 Jahre alt. Es erinnert an eine versunkene Ära der Popkultur, an Haarspray-Vogelnestköpfe, Keyboards zum Umhängen und eine vergangene Zeit der Weltgeschichte. Aber, und das ist alles andere als selbstverständlich: Man entkommt diesem Song nicht. Auch nicht im Jahr 2025. Nicht mal dann, wenn man ins Konzert einer Künstlerin geht, die ihn eigentlich gar nicht im Programm hat. So ging es den rund 15.000 Leuten, die im Mai in Hamburg die Show des Pop-Superstars ­Dua Lipa besuchten. Eine turbulente halbe Stunde war vorbei, als die Sängerin – im Ganzkörperanzug aus roter Spitze – das Publikum zur Ruhe rief. Erst war ein tiefes, sanftes Wummern zu hören. Dann sang Lipa plötzlich auf Deutsch: „Hast du etwas Zeit für mich?“ Und der Saal explodierte förmlich.

Nena, vom Teenie-Idol zur Poplegende

Porträt

Freitag, 28.11. — 21.45 Uhr
bis 25.2.26 auf arte.tv  

„99 Luftballons“ der Band Nena, 1983 veröffentlicht, der große Kalter-Krieg-Hit über einen irrtümlich ausgelösten Atomschlag, hat eine Qualität, die nur wenigen deutschen Songs vergönnt ist. Er ist nicht nur in seiner Heimat bekannt wie ein Volkslied, sondern gilt auch in der übrigen Welt als Standard. Das Stück war unter anderem in Peru, Zimbabwe, Australien und Großbritannien auf Platz eins, im Pop-Mutterland USA immerhin auf zwei. Es wurde unzählige Male gecovert, in Filmen und Serien wie „Boogie Nights“ (1997), „Gilmore Girls“ (2000) und „30 Rock“ (2006) eingesetzt. Sogar Homer Simpson singt in einer Episode „99 Luft­ballons“, den Originaltext.

Allerdings: Gabriele Susanne Kerner, genannt Nena und damals die Sängerin der gleichnamigen Band, hat den Text zeitweilig geändert. Auch sie hat „99 Luftballons“ noch im Repertoire, in ihren Solokonzerten, von denen es 2025 in Europa fast 50 Stück gab: Festivals in Schweden, Clubgigs in Ungarn, Headliner-­Shows in Londoner Traditionshallen. Wenn sie dort heute den Hit anstimmt, klingt der Schluss etwas anders. „Heute zieh ich meine Runden, seh die Welt in Trümmern liegen“, so hieß es früher in der Passage, in der der Krieg vorbei ist und die Protagonistin als Geist über der Erdkruste schwebt. ­Nena singt seit einigen Jahren: „Seh die Welt noch nicht in Trümmern liegen.“ Im Sinne von: Es ist noch nicht zu spät, die Apokalypse abzuwenden.

Schwarz-Weiß-Foto von Sängerin Nena bei einem Konzert im Jahr 1984.
Nena gilt als Role Model der Neuen Deutschen Welle – hier bei einem Konzert im Jahr 1984. Foto: picture alliance/Keystone/Röhnert

Womit sie einen Popsong neu politisiert hat, der eigentlich schon immer politisch war. Oder zumindest: politisch angehaucht. Von den Millionen Menschen, die „99 Luft­ballons“ damals kauften, zerbrach sich wohl nur ein Bruchteil die jungen Köpfe darüber, worum es in der Hymne ging, die auf Klassenfeten, in Eiscafés und Walkman-­Kopfhörern lief. In den 1980er Jahren war ­Nena zeitweise der größte deutsche Popstar. Als Protestsängerin wurde sie von den wenigsten gesehen. „Krieg ist ein Mittel der Mächtigen auf Kosten der Menschen“, sagte ­Nena Ende 2024 im Interview mit der Berliner Zeitung. „Und wir Menschen wollen Frieden. Davon bin ich überzeugt.“ Deshalb habe sie den Text umgeschrieben. „Denn ich vertraue darauf, dass wir wieder zueinanderfinden werden, in einem ganz neuen Bewusstsein.“

Zwischen Vernunft und Irritationen

Nena, die mit Anfang 20 der Teenager-Zeitschrift Bravo erzählte, sie könne eigentlich nur Liebeslieder schreiben, sieht sich mit 65 auch als Botschafterin der humanistischen und politischen Vernunft. Eine interessante, vielleicht logische Entwicklung. Die aber auch immer wieder für Irritationen sorgt. Für Probleme, die es für die Wuschelkopf-Nena der 1980er nicht gab.

„Nena hatte immer die Sorge, in irgendwelche politischen Ecken gedrängt zu werden“, erinnert sich der Keyboarder ­Uwe Fahrenkrog-Petersen im neuen Porträt „Nena, vom Teenie-­Idol zur ­Poplegende“, das ARTE im November zeigt. „Sie sagte über ,99 Luft­ballons‘: Es ist ein Song darüber, dass Menschen sich gern missverstehen und daraus oft große Krisen entstehen.“ Die Sängerin selbst äußert sich im Film nicht, dafür kommen viele Weggefährtinnen und -­gefährten zu Wort. Und obwohl das Faszinosum ­Nena schon aus allen Richtungen ausgeleuchtet wurde, entsteht hier ein besonders prägnantes Bild.

Zum Einstieg fasst die Dokumentation noch einmal zusammen, wie ­Gabriele ­Kerner zu Nena wurde. 1960 in Hagen geboren, statt Abitur eine Goldschmiedlehre gemacht. Mit 17 auf der Tanzfläche einer Provinzdisco als Sängerin für eine New-Wave-­Band gecastet: The Stripes waren oft im Fernsehen zu sehen, wurden von der Plattenfirma CBS in allen Jugendzeitschriften platziert. Erfolg hatten sie nicht. Trotzdem wurde ­Nena weiter gefördert, mit einer Beharrlichkeit, die es in der schrumpfsanierten Musikindustrie der Gegenwart nicht mehr gäbe. CBS schlug ihr vor, in Westberlin mit einem neuen Produzenten zu arbeiten und auf deutsch zu singen. Im August 1982 war die neue, nach ihr benannte Band im ARD-„Musikladen“ dabei. Nena sang „Nur geträumt“, trug einen roten Ledermini und zeigte beim Tanzen ihre Achselhaare, mit sorglosem Stolz.

Sängerin Nena und ihre Band.
Nena im Kreise ihrer langjährigen Band. Foto: Picture Alliance/United Archives

Gleich am nächsten Tag wurden, so sagt es die Historie, 40.000 Singleplatten verkauft. Für den ersten Platz der Charts reichte das nicht, den belegte der Ulksänger ­Markus. Aber als nur ein halbes Jahr später die Filmkomödie „Gib Gas – Ich will Spaß“ in die Kinos kam, in der ­Nena und ­Markus die Hauptrollen spielten, war ihr Kopf auf dem Plakat schon größer als seiner. Und ihr Name stand ganz oben.

„Das Leben ist nur so lange interessant, wie man auf der Suche ist“, sagte Nena, als sie im Februar 1984 Superstargast in der ARD-Show „Auf los geht’s los“ war. Ein altkluger Spruch für eine 23-Jährige, aber das muss man ihr lassen: Sie hat ihn selbst beherzigt.

Dass es mit dem höchsten Weltruhm bald wieder vorbei sein würde, konnte zu dem Zeitpunkt keiner ahnen. Selbst als die Band sich 1987 trennte, schien ­Nena das nicht als Indiz des Scheiterns zu werten. Zwei Jahre später starb ihr erstes Kind kurz vor seinem ersten Geburtstag, eine Tragödie, an der viele Menschen zerbrechen. ­Nena dagegen schrieb während der Leidenszeit den Song „­Wunder gescheh’n“. Ihr schönstes, stärkstes Lied überhaupt. „Immer weiter, immer weiter gradeaus“, singt sie darin. „Nicht verzweifeln, denn da holt dich niemand raus.“ Ein Jahr nach Veröffentlichung des Songs brachte sie Zwillingsgeschwister zur Welt.

Ihre anschließende Solokarriere konnte den Enthusiasmus der frühen Jahre zwar nicht mehr toppen – für einen Großteil des Publikums funktionierte ­Nena fortan vor allem via Nostalgie. Dennoch bewies ­Nena auch in den Folgejahrzehnten immer wieder die Bereitschaft zu Wagnissen, ob es nun Kinderplatten oder Techno-Experimente mit interessanten Partnern waren. Die Neugier, die man bei der jungen Sängerin für eine flüchtige Alterserscheinung gehalten hatte, erwies sich als dauerhafte Haltung.

Das Leben ist nur so lange interessant, wie man auf der Suche ist.

Nena, Sängerin
Nena zusammen mit Sohn Sakias im Jahr 2009 bei einer Spendengala.
Nena zusammen mit Sohn Sakias im Jahr 2009 bei einer Spendengala. Foto: Picture Alliance/dpa/Marcus Brandt

Jung zu sein ist das Allergrößte – und entgegen der bürgerlichen Standards hat das nichts mit dem biologischen Alter zu tun. Das ist seit mehr als 45 Jahren Nenas Kernbotschaft. Und dass diese an sich begrüßenswerte Weltsicht unter verschlechterten Umständen auch eine Menge Ärger bringen würde, hätte man sich ausrechnen können. Als 2020 die Covid-19-­Pandemie nach Europa kam, war plötzlich eine Art von sozialer Umsicht gefragt, die sich in irrationalen Momenten wie Freiheitsentzug anfühlte. Man sollte ­Nena die Art, wie sie hier immer wieder in alle Fallen tappte, nicht als Flirt mit dem Rechtspopulismus auslegen. Sehr naiv und gefährlich war ihr Verhalten trotzdem.

Sie unterstützte auf Instagram die Demos verfassungsfeindlicher Verbände. Teilte einen verschwörungstheoretischen Song, der jede westliche Coronapolitik zur dunklen Strategie erklärte. Bei einem Berliner Auftritt im Juli 2021 rief sie das Publikum dazu auf, die Sicherheitsregeln zu brechen, die das Konzert erst möglich gemacht hatten. Mit Chaoten und Anhängern rechter Politik wolle sie sich nicht gemein machen, beteuerte sie. Zu einer ihrer National­heldinnen ist ­Nena dank ihres schlechten Krisen­managements nun aber trotzdem geworden.

„Ich bin zutiefst überzeugt, dass das, was hier geschieht, nicht sinnlos ist“, antwortete ­Nena im Oktober 2024 im Interview mit der TV-Zeitschrift Prisma, als sie nach den Krisen der Gegenwart gefragt wurde. „Ich spreche einfach frei aus, was ich empfinde. Wir gehören zusammen. Alles wird gut.“

Um den grenzenlosen, kaum durchdacht wirkenden Optimismus kann man sie beneiden. Und wenn man dann – ob aus Eskapismus oder Nostalgie – die Songs von früher doch noch einmal hört und mitsingt, bemerkt man erstaunt: Je intensiver man sich konzentriert, desto mehr Sinn scheint plötzlich in den alten Teenieliedern mitzuschwingen. „Liebe wird aus Mut gemacht“, sang Nena in „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“, einem ihrer nachhaltigsten Ohrwürmer. Ist das nicht tiefe Weisheit? Oder geht man hier nur dem Pathos auf den Leim? Denk nicht zu viel drüber nach, würde ­Nena jetzt sagen. Zumindest in diesem Fall hat sie absolut recht.

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