Macht, Moral und Memes

Russlands Invasion folgt auch ein Krieg der Bilder und Deutungen. Gegen die Kreml-Propaganda setzt die Ukraine in sozialen Medien auf Vielstimmigkeit, eine Präsidenten-Ikone und Ironie.

Zerstörte Gebäude
Bilderflut: Viele Menschen in der Ukraine dokumentieren Leid und Zerstörungen durch den russischen Angriff. Foto: Mykhaylo Palinchak / SOPA Images / LightRocket / Getty Images

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt nicht nur in Charkiw, entlang des Dnipro oder im Donbass. Die Front verläuft auch durch die Bildschirmwelten des Fernsehens und der sozialen Netzwerke. Auf TikTok, ­Instagram und Co. sind außerhalb des Einflussbereichs der Kreml-Propaganda die ­Schurken- und Helden­rollen klar verteilt, zumindest in der westlichen Öffentlichkeit. Viel Aufmerksamkeit zieht vor allem Kiews präsidiale Kommunikation auf sich – unter den Menschen im zerbombten Land, aber auch international. Wolodymyr ­Selenskyjs Selfies im olivgrünen T-Shirt aus dem Regierungssitz und von diversen Kriegsschauplätzen signalisieren: „Ich bin hier und bleibe.“ Das Staatsoberhaupt der Ukraine stärkt damit die Moral von Armee und Bevölkerung. Beinahe paradox: Der Präsident ist zugleich auf Augenhöhe mit Bürgerinnnen und Bürgern und doch längst zur Ikone avanciert. Mal martialisch in Superhelden-Manier, mal mit hintergründigem Humor geistert er als wiederkehrendes Motiv durch den Kosmos der Memes, jener kreativen Bild- und Text­botschaften, die sich über die sozialen Netze viral verbreiten und erstmals in diesem Ausmaß zur medialen Spielart eines Kriegs geworden sind.

Propagandaschlacht um die Ukraine

Dokumentarfilm

Dienstag, 14.2. — 21.45 Uhr
bis 14.5. in der Mediathek

Meme: Eine Faust mit der Aufschrift
Neben den Aufnahmen der Kriegstagebücher finden Memes als Stilmittel sozialer Medien Verbreitung. Von Präsident ­Selenskyj als Comic-Held bis zu beißendem Spott gegen ­Wladimir ­Putin reichen ihre Botschaften. Foto: Meme4Ukraine / twitter

Auch die russische Seite beherrscht alle zur Verfügung stehenden Werkzeuge, aber die Ansätze in beiden Ländern unterscheiden sich fundamental. Diese Asymmetrie des Kommunikationskriegs zeigt der ARTE-Dokumentarfilm „­Propagandaschlacht um die Ukraine“: Auf der einen Seite steht die von ­Wladimir ­Putins Machtapparat zentral gesteuerte Maschinerie staatstreuer Medien. Scharfmacher wie TV-Moderator Wladimir ­Solowjow trichtern darin ihrem Publikum die offiziellen Sprachregelungen des Präsidenten ein – von Legitimierungsversuchen für den Einmarsch bis zu aggressiven Drohungen gegen Kiews Unterstützerstaaten. In der Ukraine hingegen strömt unablässig eine aus vielen Quellen gespeiste Bilderflut in die sozialen Medien. Aufgenommen von Menschen, die mit ihren Smartphones zu Chronisten von Leid und Zerstörung in ihrer Heimat geworden sind; eine unorganisierte Graswurzelbewegung, deren Video- und Foto-Kriegstagebücher millionenfach geklickt werden.

Meme von einem Eisberg, über der Wasseroberfläche steht
Foto: Meme4Ukraine / twitter / 2

Medienkritikerin Samira El Ouassil, eine der Expertinnen im ARTE-Dokumentarfilm, verfolgt den Kampf der Bilder und Botschaften seit Beginn der russischen Invasion. Nach einem Jahr Krieg registriert sie merkliche Veränderungen auf beiden Seiten. Russland etwa habe seine „Erzählung der kurzen ,militärischen Spezialoperation‘ unmöglich aufrechterhalten können“, führt sie im Gespräch mit dem ARTE Magazin aus. Gemünzt auf die Regierung in Kiew erkläre das russische Fernsehen nicht mehr, dass es sich um „einen Kampf gegen einige drogensüchtige Nazis in der Ukraine“ handele. Nun sei „der Gegner die ganze sogenannte westliche Welt“. Das lasse die Dauer des Krieges plausibler erscheinen. Nach Ansicht der Autorin baut ­Wladimir ­Putin neben der militärischen Zermürbung auf die „Betäubung der Öffentlichkeit und eintretendes Desinteresse“. Quentin ­Sommerville, Ukraine-Korrespondent der BBC, habe es auf den Punkt gebracht, als er von einem „Krieg des Vergessens“ sprach. Dem im Netz und auf internationalen Konferenzen omnipräsenten ukrainischen Präsidenten ­sei es bislang zwar gelungen, die „kommunikative Ermüdung der globalen Öffentlichkeit“ zu verhindern, sagt ­Samira El ­Ouassil, aber gegen „die Dynamik abnehmender Nachrichtenwerte“ werde er nicht dauerhaft ankommen.

Meme von Selenski al sSuperheld
Foto: Ninuts1989 / twitter

Von Marvel bis Mittelerde

Dass mitunter vom TikTok-Krieg die Rede ist und viele Darstellungen von popkulturellen Bezügen leben, liegt laut Kommunikationsexpertin El ­Ouassil am „Referenzsystem zum Verständnis des Krieges für jüngere Generationen“. Ihnen fehlten historische Bezugspunkte wie etwa die Spaltung Europas vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Ersatzweise werde auf international bekannte ­Comic- und Filmzitate zurückgegriffen – von Marvel bis Mittelerde. Populär, aber trügerisch. ­Samira El ­Ouassil: „Das kann dazu führen, dass man denkt oder gar hofft, die Lösungen seien ebenso simpel. Es brauche nur eine Superwaffe, und am Ende gibt es immer eine epische Gerechtigkeit.“

Allen Fakten über die Invasion und fortwährende Bombardements ziviler Ziele zum Trotz: Einfach sind die Dinge in Kriegszeiten nie, auch nicht in der informationellen Auseinandersetzung. Sozialpsychologin Pia Lamberty, die zu Verschwörungsideologien in Deutschland forscht, hat mit ihrem Team kurz nach dem Überfall und erneut im Herbst 2022 die Bundesbürger interviewt. Beinahe jeder Fünfte stimmte dabei der Aussage zu, der Angriffskrieg sei „eine alternativlose Reaktion Russlands auf die Provokation der NATO“. Diese Sichtweise wird im Kreml-­Auftrag massiv von russischen Troll-Armeen in westlichen Ländern verbreitet. Bei allen viralen Erfolgen der kreativen Social-Media-Akteure aus der Ukraine: Sie haben mächtige Gegenspieler im Netz.