In höheren Sphären

Zwischen Eso-Kult und Öko-Innovationen: Rudolf Steiners Ideen faszinieren und polarisieren – auch 100 Jahre nach seinem Tod. Was hat den Mann angetrieben?

Das Porträt zeigt Rudolf Steiner im Jahr 1916. Die darunter liegende Pastellzeichnung hat der Anthroposoph­ 1922 angefertigt, ihr Titel: „Mondaufgang“.
Asketisch: Das Porträt zeigt Rudolf Steiner im Jahr 1916. Die darunter liegende Pastellzeichnung hat der Anthroposoph­ 1922 angefertigt, ihr Titel: „Mondaufgang“. Foto: akg Images / picture alliance; Rudolf Steiner (Skizze Mondaufgang, 1922)

Er muss ein charismatischer Mann gewesen sein. „In seinen dunklen Augen wohnte eine hypnotische Kraft, und ich hörte ihm besser und kritischer zu, wenn ich nicht auf ihn blickte“, schrieb der Schriftsteller Stefan Zweig in seinen Erinnerungen über den Anthroposophie-Begründer ­Rudolf ­Steiner. „Sein asketisch-hageres, von geistiger Leidenschaft gezeichnetes Antlitz war wohl angetan, nicht nur auf Frauen überzeugend zu wirken.“

Es sind Augen, die heute zumindest jeder Waldorfschüler noch immer sehr gut kennt: ­Steiner gründete diese Schulen, bis heute wird in ihnen nach seinen Prinzipien unterrichtet und in fast jedem ihrer meist organisch geformten Gebäude – Stichwort: anthroposophische Architektur – hängt sein Porträt im Eingangsbereich. „­Doktor ­Steiner“ nennen ihn seine Anhänger: der Seher, der einen tieferen Einblick ins wirkliche Wesen des Universums hatte als die Normalsterblichen und der daraus eine lebensverändernde Philosophie entwickelte. Aber eben auch der „Jesus Christus des kleinen Mannes“, wie Kritiker Kurt ­Tucholsky (1890–1935) spottete, der ihn für einen Scharlatan hielt: „Der glaubt sich ja kein Wort von dem, was er da spricht! (Und da tut er gut daran.)“

Geheimakte Rudolf Steiner: Anthroposoph, Okkultist, Influencer?

Dokumentarfilm

Donnerstag, 27.3. —
20.15 Uhr
bis 24.6. in der
Mediathek

Schwarz-Weiß Foto von Schulkindern beim Rumblödeln
Kinder im Klassenzimmer an der Rudolf-­Steiner-Schule in München. Bis heute sind Waldorfschulen die wohl einflussreichste Hinterlassenschaft des Anthroposophie-Begründers. Viele Deutsche sehen in ihnen eine Alternative zum staatlichen Bildungssystem. Foto: Monika Prem / SZ Photo / picture alliance

Vor 100 Jahren, am 30. März 1925, starb ­Steiner – wahrscheinlich an einer Krebserkrankung, offiziell bestätigt wurde das allerdings nie. Dass ein Mann ganz normal krank werden könnte, der behauptete, mit den höheren Welten in Kontakt zu stehen und dessen Schaffen zu großen Teilen um die Herrschaft des Geistes über alles Materielle und Körperliche kreiste, war für sein Umfeld offenbar nur schwer zu akzeptieren.

Rudolf Steiner, dem ARTE im März eine Dokumentation widmet, war einer der großen Exzentriker der deutschen Kulturgeschichte. Ein Mann, der aus der theosophischen Bewegung der Jahrhundertwende kam, mit ihren Grüppchen, die Tische rückten und sich zu eigenartigen okkulten Ritualen trafen. Und der tatsächlich glaubte, aus christlicher Mystik, ein paar Brocken Naturwissenschaft, Goethe-­Lektüre, dem deutschen Idealismus und allerlei okkultischem Geheimwissen eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung des Übersinnlichen gefunden zu haben – wobei er darauf bestand, all das „geschaut“ zu haben. In meditationsähnlichen Sitzungen habe er Zugang zu einer Art Weltgedächtnis gehabt, das ihm seine Eingebungen diktiert habe.

Nun ist die Theosophie eigentlich eine untergegangene Welt – nur ist ­Steiner eben immer noch da. Denn anders als die meisten sogenannten Reformbewegungen, die sich damals entwickelten, ist die Anthroposophie nicht verschwunden. Im Gegenteil: 100 Jahre nach dem Tod ihres Gründers durchpulst sie noch immer den Alltag des deutschen Bürgertums, wahrscheinlich sogar deutlich stärker als jemals zuvor.

Daran ändern auch die Erzengel nichts, die ­in Steiners Werk herumgeistern: das ahrimanische und luziferische Prinzip, um das es immer wieder geht, der Glaube an ­Astral- und Äther­leib, der sein Menschenbild bestimmt, und die kleinen Lichtwolken, die man bei der Meditation rund um Samenkörner wahrnehmen könne, wobei es sich laut ­Steiner um die Freisetzung der im Samen gespeicherten Wachstumskräfte handelt.

Ölgemälde, das tanzende Menschen zeigt.
Ölgemälde „Eurythmische Empfindung“ von Anthroposoph und Künstler ­Ferdinand ­Hodler aus dem Jahr 1895. ⁠Die Eurhythmie, ein von Rudolf Steiner entwickelter Ausdruckstanz, soll den Zugang zum Astralleib ermöglichen – und steht bis heute auf dem Stundenplan der von ihm gegründeten Waldorfschulen, wo sie nach seinen Prinzipien gelehrt wird. Foto: akg Images / picture alliance

Mehr Wellness-Philosoph als Sektengründer

Der entrückte Seher wirkt heute weniger wie ein Sektengründer – eher wie ein Wellness-Philosoph. Irgendetwas scheint Steiner richtig gemacht, irgendeine Saite in der deutschen Seele zum Schwingen gebracht zu haben. Ob Gesundheit, Körperpflege, Erziehung, Medizin – der gesamte soziale Nahbereich ist von der Anthroposophie durchdrungen. Die biologisch-dynamische Landwirtschaft etwa geht auf -Steiner zurück. Demeter, die Marke, die das Verfahren besiegelt, findet man heute in fast jedem Supermarkt. Dabei ist ein biologisch-dynamisch hergestellter Apfel nicht einfach nur öko – wer das Label „biologisch-dynamisch“ verwenden möchte, muss seinen Hof entlang der anthroposophischen Esoterik ausrichten. Wozu auch gehört, im Herbst mit Mineralien gefüllte Kuhhörner auf den Feldern zu vergraben. Steiner glaubte, sie würden so über den Winter ihre „ungeheure“ Kraft „an Astralischem und an Ätherischem“ übertragen. Schadet natürlich nicht. Etwas durchgedreht ist es trotzdem.

Auf die Entstehung des Kosmetikkonzerns Weleda, weltweiter Marktführer für Naturkosmetik (Umsatz 2023: 421 Millionen Euro), hatte -Steiner ebenfalls maßgeblichen Einfluss. Alle Cremes, Seifen und Arzneimittel, die Weleda verkauft, werden nach anthroposophischen Richtlinien hergestellt. Das Wasser, in dem Substanzen aufgelöst werden, muss auf eine bestimmte Art gerührt und geruckelt werden, damit sie ihre Kraft entfalten können. Die gemeinnützige GLS Bank wurde von Anthroposophen gegründet. Sie grenzt sich allerdings seit Längerem von Teilen der anthroposophischen Lehre ab.

Logo der Drogeriemarkt-Kette
Die Anthroposophie verspricht: Die richtige Creme, der gesunde Apfel bringen Zugang zu einer besseren, harmonischeren Welt. ⁠Sehr viele Produkte, die man bei der Drogeriemarkt-Kette dm kaufen kann, kommen aus eben diesem Universum. Foto: Maximilian Schoenherr / dpa / picture alliance

Es gibt mehrere, sehr erfolgreiche Kliniken, die sich an den Ideen Steiners orientieren. Auch wenn sie heutzutage durchaus auch moderne Medizin praktizieren, wenn es um Gesundheit geht, sind ­Steiners Ideen besonders problematisch. Er glaubte beispielsweise, dass Krankheiten ihren Sinn im sogenannten karmischen Geschehen haben. Fieber könnte etwa Kindern helfen, sich in ihrem Körper einzurichten. Wer in früheren Leben Dinge falsch gemacht habe, müsse sie unter Umständen durch Krankheit wieder ausgleichen – und wer sich impfe, der könne taub werden für die karmische Botschaft. Wer die entsprechenden Passagen bei ­Steiner liest, lernt, dass alle Krankheiten vor allem geistig bekämpft werden müssen. Nur die ganz harten Anthroposophen nehmen das heute noch wörtlich. Nicht alle Anthroposophen sind Impfgegner, aber unter den Impfskeptikern gibt es eben doch auffallend viele Anthroposophen.

Und dann sind da noch die Waldorfschulen, die wahrscheinlich einflussreichste Erfindung Steiners. Er gründete die erste 1919 in Stuttgart als Schule für die Kinder der Arbeiter der Waldorf-­Astoria Zigarettenfabrik. Sehr viele Deutsche halten sie heute für eine Alternative zum staatlichen Bildungssystem – auch wenn man dort Eurhythmie machen muss, einen von ­Steiner entwickelten Ausdruckstanz, der helfen soll, Zugang zum Astralleib zu finden.

Außenfassade eines Gebäudes vor blauem Himmel
Außenfassade des Goetheanums im Schweizer Dornach, das nach den Plänen von Rudolf Steiner entstanden ist – Stichwort: anthroposophische Architektur. ⁠Foto: Thomas Dix / Archenova / Arcaid / picture alliance

Zu viel von allem – und alles auf einmal

Rudolf Steiner kam 1861 als Kind kleiner Leute in Donji Kraljevec zur Welt; heute liegt es in Kroatien, damals gehörte es zur österreich-ungarischen Doppelmonarchie. Er war ein begabter Schüler, schaffte es nach Wien auf die Universität, wo er sich in Naturwissenschaften, Philosophie, Literatur und Geschichte vertiefte – die er allerdings ohne Abschluss verließ. Das wurde ein Muster seines Lebens: Er war wissbegierig und interessierte sich für fast alles. Nur zu Ende brachte er die Dinge oft nicht. Als Steiner mit gerade mal 21 Jahren ausgewählt wurde, um an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) mitzuwirken, zog er begeistert nach Weimar. Doch ihm unterliefen Fehler, ganz offensichtlich hatte er keine Ahnung von editorischer Arbeit. In Weimar lernte er den schon schwer kranken Friedrich Nietzsche (1844–1900) kennen – mit seiner Schwester verkrachte er sich jedoch bald. 1897 zog er nach Berlin.

Aber auch hier: zu viel von allem – und alles auf einmal. Steiner gab eine Literaturzeitschrift heraus, bewegte sich in anarchistischen Kreisen, unterrichtete an einer sozialdemokratischen Abendschule – und lebte trotzdem im Elend. Bis er in die theosophischen Kreise der Hauptstadt eingeführt wurde, kleine Zirkel, die spiritistische Sitzungen abhielten und okkultes Gedankengut teilten. Er wurde Vorsitzender der Theosophischen Gesellschaft, und als es zum Streit kam, machte er seinen eigenen Laden auf: die Anthroposophische Gesellschaft. Steiner war eine moderne Figur: Wissenschaftler, Buchherausgeber, Vortragsreisender, Hauslehrer, Forscher, Industrieberater. Heute würde man sagen: Influencer, Inkubator, Content Creator. Ohne die moderne Technik, die vielen seiner heutigen Anhängerinnen und Anhänger ja häufig eher verdächtig ist, wäre dieses Leben nicht möglich gewesen. Steiner nutzte das neue Massenverkehrsmittel Eisenbahn, um das Land und später den Kontinent zu durchqueren, er lebte schließlich von den Honoraren für seine Vorträge. Er telegrafierte, er liebte den damals neuen Werkstoff Beton.

Aber er glaubte eben auch, den direkten Draht ins All zu haben und darüber seine Lehren zu empfangen, die er in seinen 5.965 Vorträgen und vielen Büchern darlegte. Thematisch gibt es da nichts, was es nicht gibt: vom „Wesen der Bienen“ bis zur Frage „Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten?“. Wer versucht, seinen siebenstufigen Menschheitsentwicklungsplan nachzuvollziehen, braucht ziemlich starke Nerven: Unsere Gegenwart befindet sich etwa auf Level 4.5.6.: nachatlantische Kultur, Herrschaft der „nordischen Unterrasse“. Die „slawische Unterrasse“ (auf Level 4.5.7.) ist dann ab dem Jahr 3573 dran; seit 1879 herrscht außerdem der Erzengel -Michael. Es gibt Vorwürfe, Steiners Menschenbild habe rassistische und antisemitische Momente – der Streit darüber tobt seit vielen Jahren. An das Thema Sex traute er sich nicht heran, dazu wurden von den höheren Mächten wohl keine Erkenntnisse übermittelt. Und dass Steiner (wie selbst seine Anhänger zugeben) ein fürchterliches Deutsch schrieb, kommt noch hinzu.

Treppenaufgang aus der Froschperspektive
Der Treppenaufgang des Goetheanums im schweizerischen Dornach, erbaut nach den Entwürfen von Rudolf Steiner. Foto: Georgios Kefalas / Keystone / picture alliance

Wenn man ein paar Schritte zurücktritt, zeigt sich allerdings auch etwas anderes: ein Traum, der vielen Menschen heute eigenartig bekannt vorkommen dürfte. Rudolf Steiner träumte von einer widerspruchsfreien Welt. Hinter all dem Chaos der Gegenwart, so stellte er es sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor, steckt eine heimliche Ordnung. Es war eine Zeit, die unserer ganz ähnlich war, die genauso von Fortschrittsschüben geprägt war: von globaler Kommunikation, explodierendem Wissen, zunehmender Geschwindigkeit, immer neuen Erfindungen, die gleichzeitig Bedrohung und Versprechen waren und deren Macht man sich ausgeliefert fühlen konnte.

Und hatten und haben die Einwände der Anthroposophen gegen unsere Gegenwart nicht auch ihre Berechtigung? Schadet die industrielle Landwirtschaft nicht dem Boden? Kümmern sich die Pharmakonzerne wirklich um die Patienten? Haben die Schulen keine tiefen strukturellen Probleme?

Es geht anders, verspricht die Anthroposophie. Die richtige Creme, der gesunde Apfel, der zwanglose Unterricht bringen ein klein wenig Ruhe, Sicherheit, nicht entfremdetes Leben. Zugang zu einer besseren, harmonischeren Welt. Niemand hat das so auf den Punkt gebracht wie Götz Werner, der vor drei Jahren gestorbene Gründer der Drogeriemarktkette dm. Auch er war Anthroposoph; sehr viele Produkte, die man bei dm kaufen kann, kommen aus diesem Universum. Jede Verkäuferin trägt eine Schürze, in die ein leicht abgewandeltes Goethe-Zitat eingestickt ist: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“