Bloß keine falsche Scham

Wo liegt der G-Punkt und kann man Sex auch zu dritt machen: Was sollten Kinder über Sex lernen – und von wem? Wieso die Debatte um Aufklärung hochpolitisch ist.

Illustrationen: Lisa Rienermann für ARTE Magazin

Für die Klitoris war es ein langer Weg. Obwohl ihre Anatomie längst bekannt ist – detaillierte Zeichnungen existieren bereits seit 180 Jahren –, wurde sie in Lehrbüchern noch bis vergangenes Jahr unter Verschluss gehalten. Erst die Initiative einer Biologielehrerin aus Berlin verhalf der wichtigsten erogenen Zone der Frau zu einer adäquaten Repräsentation. Die 27-Jährige hatte in ihrer Masterarbeit die Abbildungen weiblicher Genitalien in deutschen Schulbüchern analysiert und festgestellt: Anstatt als eigenständiges Organ wurde die Klitoris nahezu überall als Punkt dargestellt und wahlweise mit einer Erbse, einer Perle oder einem Halbmond verglichen. 2019 forderte sie die drei auflagenstärksten Verlagshäuser auf, ihre Abbildungen und Beschreibungen zu korrigieren. Mit Erfolg.

Im Februar 2022 kündigten die Verlage Klett, Cornelsen und Westermann an, die Klitoris in Zukunft so abzubilden, wie sie wirklich ist: als zehn Zentimeter großer Organkomplex mit Schwellkörpern, die im Inneren des Beckens verlaufen. Auch sprachsensible Begriffe wurden eingeführt: Statt von Schamlippen ist in den Büchern des Klett-Verlags nun die Rede von Vulvalippen. Und statt vom Jungfernhäutchen zu sprechen, um das sich seit jeher Mythen ranken, wird von allen Verlagen der Begriff Hymen eingeführt.

Schüler ab Klassenstufe fünf werden seither fachgerecht über die weiblichen Geschlechtsteile informiert – mehr als 50 Jahre nachdem das erste Schulbuch zum Thema Aufklärung in Deutschland erschien. Der Initiatorin ging es um Gleichberechtigung, denn die Darstellung männlicher Geschlechtsteile war seit jeher korrekt. Vor allem aber solle Schülerinnen so der selbstbewusste Umgang mit dem eigenen Körper ermöglicht werden. „Es schafft einen geschützten Raum für Fragen über sexuelle Lust und das weibliche Geschlecht“, erklärte sie im Interview mit der taz. Auf diese Weise würden Mythen und Druck abgebaut, was zu einer besseren sexuellen Gesundheit bis ins Erwachsenenalter beitragen könne.

Let's talk about sex: 100 Jahre Aufklärung

2-tlg. Gesellschaftsdoku 

Donnerstag, 20.7. — 20.15 Uhr
bis 17.10. in der Mediathek

KULTURKAMPF UM AUFKLÄRUNGSUNTERRICHT

Die Entscheidung, Sexualaufklärung als festen Bestandteil in die Lehrpläne aufzunehmen, traf die Kultusministerkonferenz in Westdeutschland 1968. Die DDR war bereits zehn Jahre früher dran – und auch in Westberlin und Hessen gab es bereits in den 1950er Jahren Sexualerziehung. In ihren Anfängen war die Aufklärung jedoch vor allem eine Gefahrenabwehr-Pädagogik, oftmals unterrichteten Pfarrer oder Religionslehrer. „Voreheliche Sexualität und Jugendsexualität waren tabuisiert“, sagt der Sexualpädagoge Uwe Sielert im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Im Unterricht ging es allein um die biologischen Voraussetzungen der Fortpflanzung – also um penetrativen Sex zwischen Mann und Frau. Über andere Formen der Sexualität, Gefühle oder Lust wurde nicht gesprochen. „Selbst die biologischen Fakten wurden nicht richtig vermittelt – obwohl genau das der Anspruch war“, so Sielert.

Das änderte sich ab den späten 1960er Jahren: Unter dem Einfluss der Studentenbewegung brachen immer mehr junge Menschen mit der rigiden Sexualmoral der Elterngenerationen. „Die erste große Aufgabe, die gesellschaftlich angepackt wurde, war es, ein Stück Frauenemanzipation zu betreiben“, sagt Sielert. Die Pille hatte den deutschen Markt erobert, Sexualforscherinnen brachten den weiblichen Orgasmus in den öffentlichen Diskurs. Aufklärungsfilme von Oswald Kolle, dem sogenannten Aufklärer der Nation, erlangten Popularität, und der Düsseldorfer Psychotherapeut Martin ­Goldstein beantwortete unter dem Pseudonym Dr. ­Sommer Fragen zu Liebe und Sex in der Bravo. Die neue Sexwelle schwappte bald auch auf Schulen über: Eine wachsende Anzahl junger Lehrkräfte klärte Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen über Sexualpraktiken auf – und weil die Lehrmaterialien dem Diskurs hinterherhinkten, bedienten sich viele auf dem neuen Markt an Aufklärungsfilmen und -büchern.

Während die Idee der freien Liebe nach und nach auch den Schulunterricht revolutionierte, holte eine Allianz aus besorgten Eltern, Politikern und Ärztinnen zum Gegenschlag aus. „Zur gleichen Zeit, als offener über Sex gesprochen wurde und es mehr Freiheiten gab, entstanden konservative Bewegungen, die genau das beschränken wollten“, sagt Jonathan Zimmerman, Professor für Bildungsgeschichte an der University of Pennsylvania in der ARTE-Dokumentation „Let’s talk about sex: 100 Jahre Aufklärung“. So sei es in Europa und den USA während der 1960er und 1970er Jahre zugleich zur sexuellen Revolution und zur Gegenrevolution gekommen. Über die reaktionäre Mobilisierung in der Bundesrepublik berichtete der ­Spiegel im Jahr 1978: In Bayern protestierte die katholische Ärztin Rita Stumpf mit rund 200 Gleichgesinnten vor dem Kultusministerium für die Abschaffung der „neuheidnisch-sozialistischen Schulsexualerziehung“, bevor „die Syphilis den Gaumen wegfrisst und Kinder durch das Gift der Gonorrhöe blind zur Welt kommen“. Ein CDU-Ortsverband klagte, der Aufklärungsunterricht sei zur „Porno-Show“ verkommen; der hessische Landeselternrat kritisierte die „Überbetonung der Sexualität“. Und in ganz Deutschland fürchteten Eltern, dass die Aufklärungsinhalte zu einer „verfrühten Sexualisierung“ führten.

 

Erste Pionierinnen kämpften für sexuelle Aufklärung
Die ersten Pioniere gingen für die Sexualkunde in den Knast, später lasen Teenager heimlich die Bravo und protestierten für das Konzept der freien Liebe. Die Dokumentation ist eine Zeitreise durch ein Jahrhundert Aufklärung – und eine Bestandsaufnahme der Gegenwart. Foto: Christoph Rohrscheidt/Gebrüder Beetz Filmproduktion

„Der Begriff Frühsexualisierung ist mittlerweile zum Kampfbegriff geworden“, sagt Uwe ­Sielert, der die bis heute andauernde politische Debatte um Sexualkundeunterricht seit ihren Anfängen mitverfolgt hat. Dahinter stehe der Irrglaube, dass Kinder von Natur aus völlig asexuelle Geschöpfe seien und durch Aufklärung überhaupt erst auf die Idee gebracht würden, ihre Sexualität zu spüren und zu entwickeln. „Das betrifft seit jeher vor allem Familien, die eher patriarchal orientiert und einer autoritären Erziehung zugeneigt sind“, so ­Sielert. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sei das längst widerlegt: Denn obwohl die Sexualität von Kindern selbstverständlich nicht mit der von Erwachsenen gleichzusetzen sei, erlebten sie ihren Körper von Geburt an mit allen Sinnen – und bräuchten gerade deshalb eine altersgerechte Unterstützung bei der sexuellen und psychosozialen Entwicklung.

Das beginnt bereits bei der korrekten Benennung der Geschlechtsteile im Kleinkindalter: Wer seinen Körper kennt, kann seine Bedürfnisse und Grenzen klar kommunizieren. Aufklärung, darüber herrscht in Fachkreisen Konsens, dient deshalb auch der Prävention von sexueller Gewalt. Dazu gehört laut ­Sielert auch, dass Kinder lernen müssen, die Grenzen anderer zu respektieren. Die Fähigkeit, sexuelle Bedürfnisse abzustimmen, werde so bereits bei den Jüngsten kultiviert. Im Umkehrschluss zeige sich, dass fehlende Aufklärung grenzverletzendes Handeln begünstige: „Es ist statistisch nachweisbar, dass Sexualstraftäter als Kinder häufiger eine mangelnde sexuelle Bildung erfahren haben“, so ­Sielert. Er fordert deshalb eine Bildungsoffensive in Sachen Aufklärung – beginnend in Kindertagesstätten. Für seine klare Haltung, die der Forscher in Vorträgen und gegenüber Medien vertritt, wurde Sielert zur Zielscheibe der „Besorgten Eltern“ – einer in Köln gegründeten Initiative, die 2014 und 2015 in mehreren Bundesländern Demonstrationen gegen Sexualkundeunterricht an Schulen organisierte. In einer Broschüre des Bündnisses hieß es, ­Sielert fordere „pädophile Übergriffe der Eltern auf ihre Kinder“. Dem renommierten Wissenschaftler konnte die Diffamierungskampagne nicht weiter schaden – dennoch betrachtet er die Debatte der vergangenen Jahre mit Sorge.

Denn seit die Themen Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Vielfalt im Schulunterricht berücksichtigt werden, sehen Gegner der Sexualaufklärung die heteronormative Gesellschaft bedroht. Bei den regelmäßig stattfindenden Kundgebungen des Aktionsbündnisses „Demo für Alle“ etwa wird vor der „Zerstörung der Kernfamilie“ gewarnt, vor einer „Umerziehung der Kinder“ und vor der „Abschaffung der natürlichen Geschlechter“. Anlass dafür gaben die Reformen der Bundesländer, die ihre Richtlinien für die ­Familien- und ­Sexualerziehung in den vergangenen zehn Jahren an den gesellschaftlichen Diskurs – und an die gelebte Wirklichkeit – angepasst haben. So werden im Sozialkundeunterricht neben dem klassischen Mutter-Vater-Kind-Modell heute alternative Lebensformen und sexuelle Orientierungen thematisiert. „Auch der Dualismus von Mann- und Frausein ist in den vergangenen Jahren infrage gestellt worden“, sagt ­Sielert. Die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen sei in den Vordergrund getreten – was sich auch in der Sexualerziehung von Kindern widerspiegelt. Mit Indoktrination habe das nichts zu tun, sagt Uwe ­Sielert: „In einer Gesellschaft, die Minderheiten achtet, muss das akzeptiert werden.“

Die Bilderwelten, die Carsten Müller in seinen Kinderbüchern erschafft, wirken wie aus einer Utopie. Sie zeigen Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Kulturen und Geschlechter in friedliebender Koexistenz – und weil es bei vielen Erwachsenen dazugehört, manchmal auch beim Sex. Wie genau das funktioniert, wird dabei völlig unverkrampft erklärt, eben so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Dem ARTE Magazin erzählt der Sexualpädagoge, weshalb seine Bücher mit fröhlichen Titeln wie „Von wegen Bienchen und Blümchen“ (2021) ein wichtiges Anliegen haben.

ARTE Magazin Herr Müller, ab wann sollten Kinder lernen, wie ihre Geschlechtsteile richtig heißen? 

CARSTEN MÜLLER Von Anfang an. Im Grunde geht es auf dem Wickeltisch los. Für Säuglinge macht es keinen Unterschied, ob Eltern über den Arm sprechen oder über die Vulva oder den Penis. Natürlich können sie damit noch nichts anfangen – aber ihnen wird ein positives Körpergefühl vermittelt. Die Kommunikation ist ein wichtiger Baustein bei der Prävention sexueller Gewalt. Nur wenn Kinder Begriffe für alle ihre Körperteile haben, können sie sich bei übergriffigem Verhalten mitteilen und sich dagegen wehren. Wobei man dazusagen muss: Die Verantwortung liegt immer bei den Tätern. Wenn ein Kind es nicht schafft, sich mitzuteilen, trägt es keine Schuld.

ARTE Magazin Hier sind also die Erziehungsberechtigten gefragt. Für welchen Teil der Aufklärung sind die Schulen zuständig?

CARSTEN MÜLLER Ich verstehe Aufklärung als Zusammenspiel von unterschiedlichen Akteuren – und würde zwischen Sach- und Emotionsaufklärung unterscheiden. Die Sachaufklärung wird in der Regel ganz gut von den Schulen übernommen. Emotionsaufklärung, also Gefühle, Werte und Normen, Vielfalt und Diversität werden nur am Rande bearbeitet. Es ist also eine Aufgabe für alle Beteiligten. Wichtig ist, dass Kinder mit all ihren Fragen ernst genommen werden – sonst fragen sie am Ende Fremde oder sogar Google, Alexa oder Siri.

ARTE Magazin In Ihren Büchern zeigen Sie diverse Beziehungsformen und Geschlechtervielfalt. Bekommen Sie dafür Kritik?  

CARSTEN MÜLLER Ja. Das kommt immer wieder vor und geht bis hin zu Gewaltdrohungen. Ich habe das Gefühl, dass diese Anfeindungen oft von Menschen kommen, die sehr gut vernetzt sind und vor allem eines können: laut sein. Deshalb braucht es den Schulterschluss derer, die in einer offenen und vielfältigen Welt leben wollen. Das fängt am Stammtisch an, geht über den Kolleginnen- und Freundeskreis bis auf die Straße. Ich sehe es so, dass Sexualaufklärung auch politische Arbeit ist. Und dafür lohnt es sich einzustehen.

Aufklärung ist auch politische Arbeit

Carsten Müller, Kinderbuchautor