»Nicht tatenlos zuschauen«

Das Massaker von Srebrenica jährt sich zum 30. Mal. Gleichzeitig verschärfen sich die Spannungen in der Region. Droht der Balkan auseinanderzubrechen? Ein Gespräch mit dem Historiker Florian Bieber.

Eine trauernde Frau mit Kopftuch.
Viele Opfer von Srebrenica konnten erst Jahre später identifiziert und begraben werden – hier eine Trauerfeier im Potocari Memorial Center im Jahr 2014. Foto: Amel Emric/picture alliance/AP Photo

Die Armee der Republika Srpska ermordete im Sommer 1995 in der Enklave Srebrenica innerhalb weniger Tage rund 8.000 bosnische Muslime. Das Massaker erschütterte die Welt und wurde vom UN-Völkerrechtstribunal als Genozid eingestuft. Anlässlich des 30. Jahrestages zeigt ­ARTE den Dokumentarfilm „Das ­Srebrenica Tape“: eine persönliche Annäherung an den Völkermord und seine traumatischen Folgen. Ein Gespräch mit dem Balkan-­Experten ­Florian ­Bieber über fehlende Aufarbeitung und die immer noch fragile Sicherheitsarchitektur der Region.

Das Srebrenica Tape

Dokumentarfilm

Dienstag, 1.7. — 23.20 Uhr
bis 27.12.auf arte.tv

Schwarz Weiß Bild von Experte Florian Bieber.
Der Professor für Geschichte und Politik Südosteuropas an der Universität Graz gilt als profilierter Kenner des Balkans. Zuletzt ist von ihm die Analyse „Pulverfass Balkan“ (Aufbau) erschienen. Foto: Universität Graz Tzivanopoulos

ARTE Magazin  Herr Bieber, der Dokumentarfilm „Das ­Srebrenica Tape“ stellt die Frage, wie es passieren konnte, dass Nachbarn praktisch über Nacht zu Todfeinden wurden. Haben Sie eine Antwort darauf?

Florian Bieber Über Nacht ist das nicht passiert, aber die Radikalisierung hat sich während eines relativ kurzen Zeitraums vollzogen. Mit dem Bosnienkrieg wurden Berichte über Gewalt in die Communitys hineingetragen, man traf sich seltener, redete weniger miteinander. So wurde aus Vertrauen Misstrauen. In der Wissenschaft spricht man von Frames: Es gibt den Rahmen der Alltagsbeziehungen, in dem man friedlich miteinander lebt. Wird dieser durch einen Kriegs- oder Krisenrahmen ersetzt, dominiert die Angst um die eigene Existenz.

ARTE Magazin  Brachen die Konflikte erst mit Beginn der Jugoslawienkriege hervor oder schwelten sie bereits unter Staatspräsident Tito?

Florian Bieber Man sollte die jugoslawische Zeit nicht idealisieren; es gab in gewissen Kontexten sicherlich Nationalismen, geschürt durch den Zweiten Weltkrieg, aber nicht im Sinne nationaler Spannungen. Was es nicht gab, war eine Schablone für das ganze Land. In Serbien konnte man im Café ein nationalistisches Lied singen, ohne Probleme zu bekommen, während in Bosnien die Behörden sehr viel mehr darauf geschaut haben. Es hat damals, zumindest in den großen Städten, kaum eine Rolle gespielt, zu welcher Volksgruppe man gehörte. Wenn die Mutter Serbin war und der Vater Kroate, hat man gesagt, man ist Jugoslawe.

ARTE Magazin  Die Doku-Protagonistin möchte fast 30 Jahre nach dem Massaker mehr über die Umstände der Ermordung ihres Vaters herausfinden. Was macht die Rekonstruktion der Ereignisse so kompliziert?

Florian BieberNach dem Massaker wurden die Toten oft mehrfach begraben, um die Spuren zu verwischen. Das zeigt, dass sich die Täter – bei aller Rhetorik der Leugnung – ihrer Verbrechen bewusst waren. Doch dadurch wurde die Identifizierung der Opfer sehr schwierig – sie dauert bis heute an.

ARTE Magazin Eine weitere Frage, die der Film stellt, lautet: Hätte das Massaker verhindert werden können? Srebenica war UN-Schutzzone, niederländische Blauhelme waren damals vor Ort.

Florian Bieber Mit einem entsprechenden UN-Mandat, der dazugehörigen militärischen Ausstattung und einem mutigen Kommandanten vor Ort hätte man vermutlich dagegen vorgehen können. Was man im Nachhinein aber leicht vergisst: Es war nicht absehbar, dass die bosnisch-­serbische Armee einen so massiven Gewaltakt ausüben würde. Es gab zuvor sogenannte ethnische Säuberungen, aber nichts annähernd Vergleichbares. Die Versicherung der bosnisch-serbischen Armee, die Bevölkerung nur zu vertreiben und nicht ermorden zu wollen, wirkte plausibel.

ARTE Magazin Juristisch wurde das Massaker als Völkermord eingestuft. Wie bewerten Sie die langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft?

Florian Bieber Das Problem ist, dass der Genozid nicht aufgearbeitet ist. Oder eben nur einseitig, denn von serbischer Seite gibt es keine Anerkennung. Es gab zwar in den 2000er Jahren Ansätze, 2015 besuchte der heutige Präsident ­Aleksandar ­Vučić als Ministerpräsident Serbiens sogar Srebrenica. Seitdem dreht sich das aber wieder rückwärts.

ARTE Magazin Seit die bosnisch-serbische Teilrepublik Republika Srpska die bosnische Polizei und Justiz nicht mehr anerkennt, wächst die Sorge vor einem neuen Krieg auf dem Balkan. Ist sie berechtigt?

Florian Bieber Die Krise hat sich verschärft. Allerdings hat der Präsident der Republika Srpska, ­Milorad ­Dodik, der den Völkermord leugnet und deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, nicht mehr die Rückendeckung der Bevölkerung. Obwohl auch sie in Teilen revisionistische Vorstellungen hegt, sehen viele in seinem Vorgehen einen Versuch, seine eigene politische Karriere zu retten. Zudem ist die Bevölkerung von Bosnien stark geschrumpft; es gibt schlicht nicht genug Männer, um Krieg führen zu können.

ARTE Magazin Droht eine Abspaltung der Teilrepublik?

Florian Bieber Auch das halte ich für unwahrscheinlich, zumindest wenn die europäische Sicherheitsordnung einigermaßen hält. Wir reden von einer Region, die von nur etwa einer Million Menschen bewohnt wird. Sie könnte ihr Territorium nur halten, wenn Serbien sie unterstützen würde, was wiederum ein großes Risiko für Serbien wäre. Die Länder sind mittlerweile von der ­Nato umgeben, auch Kroatien ist Nato-­Mitglied. Die Nachbarn würden nicht tatenlos zuschauen.

ARTE Magazin Die USA sind kein sicherer Partner mehr. Was sind die Folgen für die Region?

Florian Bieber Europa fällt hier eine größere Rolle zu; es muss jetzt klarmachen, dass es bereit ist, die Friedensordnung aufrechtzuerhalten, auch ohne die USA. Und es könnte sehr viel durch eine Integration in die Europäische Union abgefedert werden. Es geht hier also um ein sehr konkretes Friedensprojekt.