Tierisch genial

Der Komponist Camille Saint-Saëns hatte zu Lebzeiten einen schweren Stand. Er galt als sonderbares Genie. Heute schätzt man ihn und sein visionäres Werk dafür umso mehr.

Karneval der Tiere
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Februar 1886 in einem Dorf nahe Prag. Ein Monsieur aus Paris im mittleren Alter hat sich hier eingefunden, ein gewisser Herr de Saint-Saëns. Im Dorf ahnt niemand, dass er eigentlich ein berühmter Pianist ist, der auf großer Konzerttournee in Deutschland weilen sollte. Doch sämtliche Konzerte wurden abgesagt, nachdem er im Januar 1886 während eines Konzerts in Berlin deutschfeindliche Äußerungen von sich gegeben habe und das Gerücht kursiert, Monsieur habe sich am Pariser „Lohengrin-Boykott“ beteiligt. Wie auch immer: Nach ein paar Konzerten in der Donaumonarchie zieht sich Saint-Saëns – der eigentlich auf den Namen eines Mönches, des Heiligen Sidonius (Sanctus Sidonius heißt: Saint Saëns) hört – gekränkt für einige Tage zurück. Fern von allem und dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, erlaubt sich der gestrenge und gelehrte Herr mit dem Bart nun einen tierischen Jux: eine „große zoologische Fantasie“, den „Karneval der Tiere“ – eine Kammerorchester-Suite, die er auf der privaten Karnevalsfeier in Paris beim Cellisten ­Charles ­Joseph ­Lebouc, zu der er im März 1886 geladen ist, zum ersten Mal aufführen will.

Er ist gespannt, was die Menschen diesmal sagen werden. Denn auch zu Hause, in Paris, ist er nicht populär. Er kreiere „unverständliche Zukunftsmusik“, hatten ihm Kritiker noch 1872 vorgeworfen, „algebraische Formeln ohne jegliches Gefühl“. Ein „talentloser Autor“ sei Saint-Saëns, schimpft der Schriftsteller ­Octave ­Mirbeau, „gestrandet am Ufer der ewigen Minderwertigkeit, aus der er sich nicht erheben vermag; dieser groteske Zwerg, der seine Mittelmäßigkeit unbedingt aller Welt zur Schau stellen will!?“ Saint-Saëns’ mehr als 600 Werke, darunter Kammerkonzerte und Oratorien, Opern, Ballette, will man nicht aufführen, weil Opern- und Konzerthaus-­Direktoren besonders in Frankreich leere Häuser befürchten. Eines aber streiten ihm selbst die größten Gegner nicht ab: seine universelle Bildung, die Vielfalt seiner künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen, die er als wortgewaltiger Literat, Naturwissenschaftler, Musikwissenschaftler, Philosoph und Archäologe unter Beweis stellt.

Der Karneval der Tiere: Ein Musikstück erzählt

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Sonntag, 5.12. — 23.05 Uhr
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Bereits im Alter von sieben hat ­Camille lateinische und griechische Texte übersetzt und mit 18 Jahren seine erste Symphonie präsentiert. „Du bist weit über dein Alter hinaus“, sagt der Komponist ­Charles ­Gounod und ermahnt ihn: „Mach’ weiter so, aber vergiss nie, dass du mit dieser Aufführung die Verantwortung übernommen hast, ein großer Meister zu werden.“ Er wird es in jederlei Hinsicht und gilt bald als ausgezeichneter Pianist und Dirigent, der die Werke ­Beethovens, ­Schumanns und ­Wagners gegen die Vorurteile des französischen Publikums durchsetzt. Dazu als Meister der Orgelimprovisation an der Église de la ­Madeleine, die einst Napoleon erbauen ließ. Und als Meister der Parodie, wie nur seine Schüler, unter ihnen ­Gabriel ­Fauré, an der École ­Niedermeyer wissen und wie sich in seiner Spottkomposition „Karneval der Tiere“ nun einmal mehr zeigt.

Die 14 kleinen Musiken der Suite als harmloses Salonstück oder gar nur für Kinder zu spielen, heißt, die böse Satire zu verkennen. Neben den mit Instrumenten imitierten Tierstimmen – wie Hühnergackern, Eselsgeschrei und Kuckucksrufe – bekommt so manche zeitgenössische Gestalt ihr Fett ab. ­Jacques ­Offenbach etwa. Eine „Komponier-Maschine“, so nennt ihn Saint-Säens verächtlich und nimmt sich dessen berühmten Cancan aus „Orpheus in der Unterwelt“ vor. Statt kreischender Tänzerinnen, die juchzend ihre Beine zu schmissiger Musik hochreißen, schleichen in „Karneval der Tiere“ lahme Schildkröten im Zeitlupentempo dahin. Ein Elefant trampelt – im Takt wohlbemerkt – zum lieblich säuselnden Sylphen-­Tanz und fährt mit schwerem Tanzbein durch die leichte Stimmung zwischen Puck und den Elfen in Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Musik. Saint-Saëns, der bei der Uraufführung am Klavier saß, beweist aber auch Sinn für Selbstironie. Im elften Satz des Stückes zeigt er, dass Pianisten nichts weiter als eine „Tierart“ sind, die stupide Tonleitern auf und ab spielen. Komponisten wie er gehören laut dem zwölften Satz zu den Fossilien, weshalb er das „Gebein-Motiv“ aus seiner symphonischen Dichtung „Danse macabre“ von 1876 zitiert, auf das die Knochen zu „hölzernem (Xylofon)-Gelächter“ ordentlich klappern. Dazu das Kinderlied „Ah! vous dirai-je maman“, dessen Anfangstakte Mozart zum Thema seiner Klaviervariationen (KV 265) inspirierte und eine Rossini-­Arie aus dem „Barbier von Sevilla“.

Du hast die Verantwortung […], ein großer Meister zu werden

Charles Gounod, Komponist

Musikalischer Scherzbold

Die Uraufführung von „Karneval der Tiere“ am Faschingsdienstag, dem 9. März 1886, ist ein Erfolg. Alles lacht. Doch Saint-Saëns will nicht als Scherzbold in die Musikgeschichte eingehen. Er verbietet weitere Aufführungen. Nur für die vorletzte Nummer seines „Karnevals“ macht er auf Bitten der russischen Primaballerina Anna Pawlowa eine Ausnahme und löst sie aus dem Werk. Im weißen Tellertutu und einer Kappe aus Schwanenfedern gleitet sie zu einer Cellokantilene dahin und wird weltberühmt als „Sterbender Schwan“ – und mit ihr der Komponist. 1921 stirbt Saint-Saëns in Algier. Tausende Menschen begleiten den Trauerzug, als er am 24. Dezember 1921 auf dem Cimetière Montparnasse bestattet wird. Erst nach seinem Tod wird sein „Karneval“ wieder aufgeführt und zu einem der bekanntesten Stücke des Komponisten.

Saint-Saëns, der Unergründliche

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