Rettung streng nach Quote

Antisemitismus und eine Politik der Abschottung verhinderten, dass die Vereinigten Staaten mehr Juden vor der Vernichtung durch die Nazis retteten. Für Regisseur Ken Burns ein Versagen.

New York, um 1930: Das Versprechen der Freiheitsstatue erfüllte sich in der Folgezeit nur für einen Teil der verfolgten Juden.
New York, um 1930: Das Versprechen der Freiheitsstatue erfüllte sich in der Folgezeit nur für einen Teil der verfolgten Juden. Foto: Library-of-Congress_ARTE-F

Ken Burns geht einmal mehr mit seinem Heimatland hart ins Gericht: „Wir haben versagt“, urteilt er im Gespräch mit dem Late-Night-Talker Stephen ­Colbert im Fernsehsender CBS. Die Vereinigten Staaten hätten nach 1933 225.000 Juden aufgenommen, die vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fliehen konnten – mehr als jeder andere Staat damals. „Aber“, klagt Burns an, „wir hätten fünf- oder auch zehnmal so viele hineinlassen können.“ Der Filmemacher hat schon häufig den Finger in schlecht verheilte Wunden der US-amerikanischen Geschichte gelegt. Er hat die langen Linien des Bürgerkriegs 1861–1865 und das Vietnam-Trauma, das nicht vergehen will, episch aufgearbeitet. Mit der Dokureihe „Die USA und der Holocaust“, die ARTE im Oktober zeigt, schlagen Burns und seine Co-Autorinnen und Regisseurinnen Lynn Novick und ­Sarah Botstein jetzt ein weiteres heikles historisches Kapitel auf. Und rütteln an dem Selbstverständnis Amerikas, stets ein sicherer Hafen für bedrohte Menschen aus aller Welt gewesen zu sein.

Die USA und der Holocaust

6-tlg. Dokureihe 

Di., 17.10. — 20.15 Uhr
bis 20.5.24 in der
Mediathek

In Bronze gegossen ist dieses Ethos im Sockel der Freiheitsstatue mit den Worten der Dichterin ­Emma ­Lazarus (1849–1887), selbst Kind sephardischer New Yorker Juden. „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“, heißt es übersetzt in ihrem Sonett „The New Colossus“ („Der neue Koloss“). Jeder Einwanderer, jeder Geflüchtete, der aus Europa kommend mit dem Schiff in New York anlandete, passierte diese Verse. Doch schon 1903, als die hehre Botschaft auf Liberty Island angebracht wurde, waren die USA keine für jeden Menschen offene Einwanderernation mehr. Und noch weniger waren sie es in den Jahren nach 1933, als Europas Juden sich vor den Nazis zu retten versuchten. 

Bei allen Versäumnissen ist für Ken Burns eine grundsätzliche Feststellung wichtig: „Die Vereinigten Staaten sind in keiner Weise für den Holocaust verantwortlich.“ Aber zutiefst antisemitisch, rassistisch, fremdenfeindlich und gegen Einwanderung gerichtet sei das Land in jenen Dekaden gewesen, so der Filmemacher. In der Dokureihe wird das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, die bis in prominente Zirkel Rassenlehre akzeptierte, Eugenik an Universitäten lehrte, sie in Dutzenden Bundesstaaten sogar gesetzlich verankerte. In der Millionen Menschen den Kapuzenmännern des Ku-Klux-Klan folgten, die Afroamerikaner, Katholiken und Juden gleichermaßen bedrohten. Und in der Vorstellungen einer „jüdischen Weltverschwörung“ auf fruchtbaren Boden fielen. 

 

Dokureihe ARTE Holocaust und die USA
Hätten die USA mehr tun können, um die Ermordung von Millionen von Juden durch das NS-Regime zu verhindern? Die Dokureihe von Ken Burns, Lynn Novick und Sarah Botstein schildert anhand von Dokumenten sowie Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die Schicksale von Familien und ihre ver­zweifelten Versuche, dem systematischen Töten zu entkommen. Foto: Library-of-Congress_ARTE-F

FEINDSELIGE GESELLSCHAFT

Nicht nur das feindselige gesellschaftliche Klima sorgte dafür, dass Juden aus Deutschland und später anderen Teilen Europas eine Flucht vor NS-Terror in die USA oft verwehrt blieb. Hinzu kamen der ausgeprägte Isolationismus und strenge Quoten für Immigranten. Mehrheitsmeinung war, die Vereinigten Staaten sollten sich aus dem Rest der Welt politisch und militärisch heraushalten. Und: Ab den 1880er Jahren wurde die Einwanderung nach und nach gesetzlich gedeckelt. Der Immigration Act von 1924, vorläufiger Höhepunkt der Einschränkungen, zielte auf asiatische Herkunftsländer, aber ebenso auf Europa, vor allem den Süden und Osten. Aus Deutschland durften danach zunächst jährlich gut 50.000 Einwanderer kommen. Als der Börsencrash im Oktober 1929 die USA in die Große Depression stürzte, wurden die Zahlen noch einmal halbiert – und sollten in den 1930er und 1940er Jahren nicht mehr angehoben werden. US-Konsulate arbeiteten in Nazi-Deutschland bei der Erteilung von Visa weiter streng nach Vorschrift.

Auch die Zäsur der Reichspogromnacht im November 1938 änderte nichts an der grundsätzlichen Einstellung der Amerikaner, die von der organisierten Gewalt gegen jüdische Menschen, Geschäfte und Synagogen auf den Titelseiten ihrer Zeitungen erfuhren. Eine Umfrage des American Institute of Public Opinion unmittelbar nach den Geschehnissen habe zwar erbracht, dass 94 Prozent der Befragten den Umgang der Nazis mit den Juden missbilligten, sagt der Historiker Daniel Greene. Zugleich hätten sich aber 71 Prozent dagegen ausgeprochen, mehr jüdische Exilanten ins Land zu lassen. Greene, der an der Northwestern University in Evanston, Illinois, forscht, ist einer der Berater der Dokureihe und Kurator der Ausstellung „Americans and the Holocaust“, die 2018 im United States Holocaust Memorial Museum in Washington gezeigt wurde und dem Filmteam als Inspiration diente.

Der dreimalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) unternahm nur halbherzige Versuche, die Rettung europäischer Juden vor und nach Beginn des Zweiten Weltkriegs auszuweiten – aus innenpolitischen Gründen. Sein schärfster Widersacher war der legendäre Atlantikflieger Charles Lindbergh, Galionsfigur des isolationistischen „America First Committee“ mit seinen bis zu 800.000 Mitgliedern. Noch 1941 kritisierte er in einer Rede „die Briten, die Juden und die Regierung Roosevelt“ als wichtigste Gruppen, die die USA in den Krieg treiben wollten.

Drei Frauen – Ein Krieg

Dokumentarfilm

Di, 17.10. — 22.55 Uhr
bis 14.1.24 in der
Mediathek