Sie verkörpert große Frauen mit Leichtigkeit – ob Kaiserin Sisi oder Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Die wandelbare deutsch-luxemburgische Schauspielerin Vicky Krieps feierte 2022 gleich mit zwei Filmen in Cannes Weltpremiere: „Corsage“ von Marie Kreutzer und „Mehr denn je“ von Emily Atef. ARTE zeigt beide Produktionen im Rahmen des FilmFestivals. Für das Gespräch schaltete sich die Wahlberlinerin von einem Dreh aus Frankreich zu.
ARTE Magazin Frau Krieps, Sie sind bei den Dreharbeiten für einen neuen Film gestürzt. Was ist passiert?
Vicky Krieps Schauspielerei hat neben dem Handwerk fast etwas Schamanisches – das gewisse Plus-X, das entsteht, wenn man seine Seele öffnet. Für mich bedeutet das, im Moment alles zu vergessen, Verantwortung abzugeben und sich wie ein Kind hinzugeben, zu träumen, zu spielen und Quatsch zu machen. Genau so ist das gestern zwischen zwei Szenen passiert: Ich wollte mit Anlauf an einer im Türrahmen befestigten Stange von einem Zimmer ins andere schwingen. Als ich in der Luft war, ließ das Ding nach, und ich bin auf die Steintreppe unter mir gefallen. Zum Glück hatte ich eine Vokuhila-Perücke auf, also eine große Matte. Das hat mich wohl gerettet.
ARTE Magazin Hat Sie dieser spielerische Aspekt damals zum Schauspiel gebracht?
Vicky Krieps Da ich aus dem kleinen Luxemburg komme, war es für mich schwer vorstellbar, Schauspielerin zu werden. Aber wenn ich ein Gedicht aufsagte, konnte ich die Worte in der Luft fühlen. Ich wollte herausfinden, warum das für mich so kraftvoll war. In meinem Auslandsjahr in Südafrika sah ich eine Bergkette und war sehr berührt. Das war so ein Moment, den Menschen wohl haben, die gläubig sind oder Gott spüren oder die Natur. Wenn man merkt, es gibt noch etwas viel Größeres – und man selbst ist ganz klein. In dem Moment habe ich gedacht, ich werde Schauspielerin – weil ich dieses Gefühl einfangen und mit möglichst vielen Leuten teilen wollte.
ARTE Magazin Regisseurin Margarethe von Trotta bewundert Ihre Fähigkeit, Gefühlszustände im Nu zu ändern. Wie gelingt Ihnen das?
Vicky Krieps Lachen und Weinen liegen ganz nah beieinander. Ich lasse die Gefühle ineinander überfließen. Während die Figur weint, lacht sie schon, dem vorausgehend, was gleich passieren wird. Dieses Fließen von Emotionen entspricht immer mehr dem echten Leben, denn in dem Moment, in dem man darüber nachdenkt, ist die Emotion schon wieder vorbei.
ARTE Magazin Sie sind international sehr erfolgreich. Inwiefern unterscheidet sich das US-Kino vom europäischen?
Vicky Krieps In den USA gibt es immer ein kleines Fenster für Talent. Ich habe dort früh kleine Rollen bekommen – denen war egal, wer ich bin. In Deutschland hat man mehr Angst. Dadurch, dass Filme hier so stark subventioniert werden, müssen Dramaturgen immer ihr grünes Licht geben. Man muss vorher bewiesen haben, dass man ein toller Schauspieler ist, weil man viel Theater gespielt oder schon andere Filme gemacht hat.
ARTE Magazin Kino kennt keine Grenzen, haben Sie einmal gesagt. Wie meinen Sie das?
Vicky Krieps Das Kino stirbt gerade. Oder die Kultur, ins Kino zu gehen. Das Wissen, was ein guter Kinofilm ist, verblasst. Netflix, Apple und Amazon nehmen mehr und mehr die Rolle der Filmstudios ein. Kinder, die heute Filme schauen, wissen gar nicht, wer Hitchcock ist, wer das alles erfunden hat. Heute sind die Geschichten und Dialoge viel flacher. Dennoch hat Kino keine Grenzen. Das habe ich in Cannes gesagt, als ich Filme sah, die aus der ganzen Welt kamen. Ein kleiner Kinofilm, irgendwo in Kasachstan oder Korea gedreht, kann immer noch überall hinreisen – auch ohne viel Geld. Das bedeutet leider nicht, dass sich das Leben der Menschen, die den Film gemacht haben, verbessert. Aber der Film kann reisen und Menschen beeinflussen. Die Kinosprache als Phänomen existiert weiterhin.
ARTE Magazin Sie saßen dieses Jahr in der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes. Woran erkennt man einen Gewinnerfilm?
Vicky Krieps Den Gewinnerfilm erkennt man nur als Gruppe. Das ist das Schwierige in der Jury. Ich habe versucht, in jeden Film unvoreingenommen zu gehen – ohne darüber zu lesen oder zu wissen, wer ihn gemacht hat. Ich bin morgens immer schwimmen gegangen, wie um mich reinzuwaschen. Ich brauchte einen Moment für mich, ohne Glitzergedöns. Von mir aus könnte man die ganzen Klunker weglassen – und das Festival in einem Zelt abhalten, in dem es nur Filmvorführungen gibt und Nudeln und Tafelwein für alle.
ARTE Magazin Wie kamen Sie zu Ihrer Rolle als Sisi, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn?
Vicky Krieps 2016 habe ich mit Marie Kreutzer gedreht. Ich wollte unbedingt wieder mit ihr arbeiten und einen Film über Sisi machen. Es war das Letzte, was sie vorhatte, weil Sisi nur als Vorzeige-Prinzessin bekannt ist. Ich hatte das Gefühl, dahinter verbirgt sich noch mehr. Als ich Sisis Biografie las, hatte ich viele Fragen: Warum ging sie dauernd reiten? Warum hat sie nichts gegessen? Der Schönheitswahn klang für mich nicht sehr freiwillig. Ich kannte Sisi von meinen Nachbarn, die die Filme mit Romy Schneider klassisch an Weihnachten schauten, und gab mich dem auch gerne hin. Meine Mutter war da anders unterwegs, bei uns zu Hause lief Janis Joplin. 2018 hatte ich dann Maries fantastisches Drehbuch im Briefkasten. Das zu finanzieren war hochkompliziert, weil man unsympathische weibliche Hauptrollen nicht finanzieren kann.
ARTE Magazin Schönheitsideale spielen in Ihrem Film eine große Rolle. Inwiefern entsprechen sie den heutigen Anforderungen an Frauen?
Vicky Krieps Ganz doll. Sisi war quasi das erste Opfer von Celebrity Culture und eignet sich als Spiegel der heutigen Zeit. Wir sind alle Sisi. Das hat mich sofort an Instagram erinnert. Heute hat jeder eine Vorstellung davon, wie man aussieht und aussehen müsste, und vergleicht sich. Das schafft einen riesigen Schönheitsterror. Als ich in L. A. auf einer Party der Reichen und Schönen war, sahen alle Frauen aus wie Schwestern – mit derselben Nase, demselben Mund, weil alle dieselben Operationen machen. Das war gruselig.
ARTE Magazin „Ein Löwe verliert keinen Schlaf über die Meinung von Schafen“, sagt Sisi im Film zu Franz. Wie wichtig ist Ihnen selbst die Meinung anderer?
Vicky Krieps Die Meinung meiner Familie ist mir sehr wichtig. Da bin ich angreifbar. Unbewusst wäge ich immer ab, ob mein Großvater grünes Licht geben würde. Insofern ist mir die Meinung anderer wichtig, aber nicht die der Masse. Der Gedanke, bekannt zu sein, gibt mir nicht wirklich etwas.
ARTE Magazin Ihr Schauspielkollege Florian Teichtmeister, der an Ihrer Seite Kaiser Franz Joseph spielt, wurde in einem Kinderpornografie-Prozess verurteilt. Welche Auswirkungen hatte das auf Sie und den Film?
Vicky Krieps Ich habe noch nie so viel Gegenwind erlebt wie bei diesem Film. Dabei ist er so schön und auf den Punkt. Natürlich war ich als Mutter von zwei Kindern erschüttert. Ich habe es geschafft, mir zu sagen, ich habe damit nichts zu tun. Dieser Film hat etwas ausgelöst bei gewissen Menschen. Er besaß die Frechheit, Ungehorsam darzustellen aus der Sicht von Frauen. Der Skandal wurde dann zum Ventil, um gegen den Film anzugehen. Mir wurde gesagt, ich dürfte mich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen – da wurde mir so unwohl. Seit wann versteckt sich eine Frau, weil ein Mann ein Arschloch ist? In meiner Not rief ich Patti Smith an, ihr sind solche Sachen auch schon passiert. Sie blieb cool und meinte: „Mach dir nichts daraus, ich bin bei dir.“ Am nächsten Tag trug sie ein T-Shirt mit meinem Namen, das war ihr Kommentar. Für mich war das ein wichtiger Moment.
ARTE Magazin Sie haben die Filme „Corsage“ und „Mehr denn je“ gleichzeitig gedreht. Haben sich die Dreharbeiten gegenseitig beeinflusst?
Vicky Krieps Ja! Ich habe in meinem Kopf aus beiden Frauen eine Figur gemacht: Sisi, die davon träumt, auszubrechen, durfte als Hélène nach Norwegen reisen. So habe ich mir das zurechtgelegt – sonst hätte ich das nicht gekonnt.
ARTE Magazin In „Mehr denn je“ erlebt Hélène auch sterbenskrank noch Glücksmomente. Wie schafft man das?
Vicky Krieps Hélène lebt vielleicht sogar bewusster, weil sie begreift, dass ihr Leben bald zu Ende geht. Sie sucht die Verbindung mit der Natur, mit etwas Größerem, was dir das Gefühl gibt, nicht allein zu sein. Der Film zeigt, wie ein Mensch sich von den gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen befreit und den Mut hat, zu tun, was er wirklich möchte.
ARTE Magazin Sie haben einmal gesagt, Sie kennen die Angst, allein zu sein, und wollen Ihren Figuren gerade deshalb mitgeben, nicht aufzugeben. Wie setzen Sie das um?
Vicky Krieps Wenn wir uns als Menschen klein und allein fühlen und das Gefühl haben, alle anderen haben viel mehr – dann gibt es eine Sache, die man machen kann. Du sagst dir, dieser Bürgersteig, über den ich gerade laufe, das ist jetzt mein Bürgersteig. In diesem Moment gehört er dir. Mit diesem Perspektivwechsel – das kann man ständig und überall machen – kommt man in eine Kraft, die fast unbesiegbar ist. Solange meine Sichtweise das Zentrum ist, fühle ich mich nicht mehr allein. Es gibt natürlich Situationen im Leben, da ist man einfach schlecht dran. Aber das gebe ich meinen Figuren mit: keine Angst zu haben, den kleinsten Teil des Raums einnehmen zu müssen, sondern sich stark und sicher zu fühlen.
Die Kinosprache als Phänomen existiert weiterhin