»Ich bin ein rastloser Reisender«

Wer an Autorenfilm denkt, denkt an Wim Wenders. Mit Werken wie „Paris, Texas“ hat der Regisseur das Kino geprägt, er hat in Japan gedreht, sein Glück in Hollywood gesucht. Und ist in Brandenburg sesshaft geworden. Was treibt ihn an?

Schwarz-weiß Bild von Wim Wenders
Als visionärer Filmemacher blickt Wim Wenders auf eine facettenreiche Karriere. Anlässlich seines 80. Geburtstags zeigt ARTE u.a. das Porträt „Wim ­Wenders: Der ewig Suchende“. Foto: Matthias Ziegler / Soothing Shade

Wie darf man sich den Berufsalltag eines Regisseurs vorstellen? Als Wim ­Wenders an einem Abend im Mai auf der Bühne des Cinema Paris in Berlin steht, wo sein Film „Der Himmel über ­Berlin“ (1987) gezeigt wird, formuliert er es so: „Man ist eigentlich ein besserer Reiseleiter.“ Das mag leicht verkürzt klingen, doch tatsächlich ist das Unterwegssein für ­Wenders immer ein großes Thema gewesen. Im Roadmovie „­Alice in den Städten“ (1974) etwa, das von einem ziellos durch die USA streifenden Journalisten handelt, der sich plötzlich um ein Kind kümmern muss. Oder in „Paris, Texas“ (1984), der in den Wüstenpanoramen des amerikanischen Westens schwelgt. Es war dieser Film mit ­Harry Dean ­Stanton und ­Nastassja ­Kinski, der ­Wenders weltweit zum Durchbruch verhalf. Seitdem hat er mehr als 50 Filme gedreht, hat mit ­Dennis ­Hopper, ­Willem ­Dafoe und ­James ­Franco gearbeitet. Den größten Erfolg aber brachten oft seine Dokumentarfilme. Immer geht es darin um Leute, die eine Leidenschaft antreibt: die kubanischen Musiker vom ­Buena ­Vista ­Social Club etwa, die Tänzerin ­Pina Bausch oder den Künstler ­Anselm ­Kiefer. Zuletzt wurde ­Wenders 2024 für seinen Spielfilm „­Perfect Days“ (2023) für den Oscar nominiert. Und wenn er im August 80 Jahre alt wird, eröffnet in der Bundeskunsthalle in Bonn eine Retrospektive seines filmischen Werks. Er dürfte auch in diesem Jahr viel unterwegs sein.

ARTE Magazin Herr Wenders, schon als Kind gingen Sie gerne ins Museum, um sich Landschaftsmalereien anzuschauen. Was hat Sie daran interessiert?

Wim Wenders Berge haben mich nicht begeistert, aber die flachen holländischen Landschaften. Und auch das Meer hatte es mir angetan. Ich glaube, mich hat vor allem der Horizont interessiert. Wie weit kann man sehen, wie klein werden die Kirchen oder Windmühlen, wenn sie ganz weit weg sind? Und was kommt dann hinter dem Horizont?

ARTE Magazin Und als Sie später selbst Maler werden wollten, haben Sie Landschaften gemalt?

Wim Wenders Natürlich! Nur einmal ein Porträt. Aber dass es Mick ­Jagger darstellte, wusste bloß ich. Und ­Peter ­Handke, der es mir abgekauft hat. Vermutlich wohl eher, um einen notleidenden Künstler zu unterstützen. Ansonsten habe ich, fürchte ich, nichts verkauft.

ARTE Magazin Ist Ihr Dokumentarfilm „Anselm“ über ­Anselm ­Kiefer auch eine Art Rückkehr in diese Welt?

Wim Wenders Jeder Besuch bei einem Maler im Atelier hat mir immer einen Stich ins Herz gegeben: Das ist ein Leben, das du hättest leben können. Aber Anselm ist schon ein einzigartiger Fall, weil er vor nichts Angst hat. Vor allem nicht davor, dass man irgendetwas nicht malen könnte. Er malt alles, von Geschichte bis zu Mystik, Mythen und Mathematik. Er malt Alchemie, Astrophysik und das Weltall genauso wie die Welt der Atome. Ein toller Hecht! Ich könnte nie einen Film über jemanden machen, den ich nicht mag.

ARTE Magazin Was muss ein Mensch noch mitbringen, damit Sie ihn porträtieren wollen? Sie haben über den Modedesigner Yohji Yamamoto oder Papst Franziskus gedreht.

Wim Wenders Er oder sie muss sich in erster Linie etwas trauen. ­Pina Bausch hat sich getraut, eine neue Kunstform zwischen Tanz und Theater zu erfinden. ­Yohji ­Yamamoto hat die Modewelt der 1980er Jahre auf den Kopf gestellt und sich getraut, Frauen zu sagen, dass Schuhe mit hohen Absätzen ihnen nicht guttun. Papst ­Franziskus war der erste Papst aus Lateinamerika und der erste, der den Namen eines der großen Revoluzzer der Kirche angenommen hat. Vor ihm gab es keinen, der sich getraut hätte, ­Franziskus zu heißen. Der Name war schon Programm.

ARTE Magazin Sie selbst wurden 1984 mit „­Paris, ­Texas“ berühmt, einem Roadmovie, das auch eine Hommage an den Traum vom amerikanischen Westen ist.

Wim Wenders Die amerikanische Landschaft ist für mich wie kaum eine andere mythisch aufgeladen. Vielleicht wegen der vielen Westernfilme, die ich als Junge gesehen habe, oder wegen der Karl-May-­Romane. Bevor ich „Paris, Texas“ im amerikanischen Westen gedreht habe, bin ich monatelang kreuz und quer hindurchgereist, durch Arizona, New Mexico, Texas und Utah. Bis ich ungefähr jede Landstraße und jede dust road kannte. Ich wollte mich gut auskennen, bevor ich dort einen Film mache. Für mich sind Landschaften nicht nur Schauplätze, sondern auch Miterzähler der Geschichte.

ARTE Magazin Sind Sie deshalb Ende der 1970er Jahre erstmals in die USA gezogen, wo Sie lange gelebt haben? Oder anders gefragt: Was zog Sie dorthin?

Wim Wenders Hollywood! Ich habe ja im wahrsten Sinne einen Anruf aus Hollywood bekommen, in diesem Fall von ­Francis Ford ­Coppola, der mir anbot, einen Film für sein Studio American Zoetrope zu machen. Ich war 33 Jahre alt, hatte mit dem „Amerikanischen Freund“ eine Art Thriller gedreht, der weltweit gezeigt wurde. Und die Aussicht, als Nächstes in San Francisco eine Detektivgeschichte über den Schriftsteller ­Dashiell ­Hammett zu machen, war einfach zu schön, um wahr zu sein. Zumindest zu schön, um nicht angenommen zu werden.

Filmszene mit Nastassja Kinski
Schulterblick: Nastassja Kinski 1984 in einer Szene aus „­Paris, ­Texas“. Foto: Wim Wenders Stiftung / ZDF

ARTE Magazin Die Dreharbeiten zu „Hammett“ waren lang und kompliziert. Was haben Sie in Ihrer Zeit in Hollywood über sich herausgefunden?

Wim Wenders Einiges. Zum einen, dass ich mit Haut und Haar europäischer Filmemacher und Autorenfilmer bin. Das ist im Rest der Welt ein Qualitätsbegriff, nur im deutschen Sprachgebrauch hat er einen negativen Unterton. Wenn ich, wie bei Hollywood-­Produktionen üblich, keine Kontrolle über die Produktionsmittel habe und wenn wichtige Entscheidungen wie das Casting, die Wahl des Komponisten oder anderer künstlerischer Mitarbeiter bei anderen liegen, wenn auch der „Final Cut“ beim Produzenten liegt, fühle ich mich, als würde mir der Teppich unter den Füßen weggezogen. Noch entscheidender aber war, dass ich gemerkt habe, dass ich im Herzen ein hoffnungsloser deutscher Romantiker bin und nie ein Amerikaner werden, auch nie amerikanische Filme drehen könnte. „­Paris, ­Texas“ ist ein europäischer Film. In den USA gedreht, aber sicher kein amerikanischer Film.

ARTE Magazin Erst nach„Paris, Texas“ hätten Sie nach Deutschland zurückkehren können, haben Sie gesagt. Wieso haben Sie sich vorher nicht getraut?

Wim Wenders Ich bin damals ziemlich genau beobachtet worden, nicht nur von der Presse in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern: „Wie wird es dem ­Wenders in Hollywood ergehen?“ Und dann war „­Hammett“ kein Erfolg und sicher nicht der Film, den zu drehen ich ausgezogen war. Und die anderen Filme, die ich in diesen acht Jahren in den USA gemacht habe, auch nicht. Ich musste mir eingestehen, dass ich hergekommen war, um einen großen amerikanischen Film zu machen. Das hatte nicht geklappt, würde auch nie klappen. Aber einen großen Film in Amerika, damit könnte ich erhobenen Hauptes zurückkehren. Und das wurde dann „­Paris, ­Texas“. Gott sei Dank!

Ich bin mit Deutschland als Heimatland im Reinen

Wim Wenders, Regisseur
Wim Wenders und Otto Sander lehnen an einer Statue
1993 bei den Dreharbeiten zu „In weiter Ferne, so nah!“, der Fortsetzung von „Der Himmel über ­Berlin“. Foto: 1993 Road Movies Filmproduktion / Wim Wenders Stiftung

ARTE Magazin Ein paar Jahre später kam „Der Himmel über ­Berlin“, der ganz anders ist: Er handelt von Engeln, die sich unter Menschen bewegen, ist in Schwarz-Weiß gedreht.

Wim Wenders In diesen metaphorischen Figuren lagen die tollsten Möglichkeiten. Und zwar sowohl etwas über Berlin zu erzählen, das nicht nur von der Gegenwart, sondern auch von der Geschichte der Stadt handelt, als auch über die deutsche Seele. Die Engel können ja sogar die Gedanken der Menschen hören, denen bleibt nichts verborgen. Außerdem wollte ich einen Film machen, der rein gar nichts mit „­Paris, ­Texas“ gemein hatte. Das war nämlich eine große Belastung für mich: dass alle Welt noch einmal „so einen Film“ von mir erwartete. Von dem Druck musste ich mich befreien.

ARTE Magazin Vermissen Sie in der Gegenwart einen Sinn für das Geheimnisvolle oder Metaphysische?

Wim Wenders Durchaus. Das Geheimnisvolle hat zwar Konjunktur, in der Form von Fantasy, in Filmen oder Literatur. Wenn man in den Buchhandlungen guckt, welchen Platz das vor allem bei Jugendlichen einnimmt, ist man sprachlos. Das Metaphysische ist aber etwas anderes. Spiritualität und Religion sind im digitalen Zeitalter in den Hintergrund getreten. Beziehungsweise werden sie leider für viele Menschen von Verschwörungstheorien oder anderem Humbug ersetzt. In gewisser Weise habe ich mit „Perfect Days“ einen spirituellen Film gemacht, und da hat es mich wahnsinnig gefreut, wie sehr er auch von jungen Leuten angenommen worden ist.

ARTE Magazin Der Film handelt von einem Toilettenputzer in Tokio, der seiner Arbeit mit großer Hingabe nachgeht.

Wim WendersIch fand es wunderbar, dort einen Film über alles machen zu können, was ich an der japanischen Kultur so mag: die Reduktion auf das Einfache, der Sinn für die kleinen Dinge und der Stellenwert, den das Gemeinwohl im öffentlichen Leben hat. Ich finde es auch großartig, dass einfache Handwerker, die mit Ton, Stein oder Holz arbeiten, zu wichtigen und hochgeachteten Personen werden können, geradezu zu nationalen Heiligtümern. Im Grunde ist mein Toilettenputzer Hirayama so ein Mensch.

ARTE Magazin Viele Ihrer anderen Figuren suchen dagegen ihr Glück, indem sie immer weiterziehen. Können Sie diese Rastlosigkeit nachvollziehen?

Wim Wenders Unbedingt, sonst hätte ich von ihnen nicht erzählen können. Ich bin ja selbst im Hauptberuf „rastloser Reisender“. Nicht zu verwechseln mit „­Rudi ratlos“.

ARTE Magazin Wo fühlen Sie sich zu Hause?

Wim Wenders Ich habe meine Heimat in der Nähe von Berlin gesucht und gefunden, in der Uckermark. Ich bin auch nach meinen beiden jeweils achtjährigen Amerika-­Aufenthalten mit Deutschland als meinem Heimatland im Reinen. Aber dass jeder Vierte hier inzwischen eine neofaschistische Partei wählen würde, verstört mich ziemlich. Gut, woanders ist es noch schlimmer. Aber gerade die Deutschen hätten etwas mehr aus der Geschichte lernen müssen! Leider ist der Sinn für Geschichte als Maßstab verschwunden. Wir leben in einer Zeit, in der „Wahrheit“ keinerlei faktische Grundlage mehr hat.

Wim Wenders und Anselm Kiefer im Atelier
Mit dem Maler ­Anselm Kiefer (l.) in dessen Atelier. Foto: 2023 Road Movies Filmproduktion / Wim Wenders Stiftung / ZDF

ARTE Magazin In „Der Himmel über Berlin“ ist Geschichte schon dadurch allgegenwärtig, dass ständig die Mauer zu sehen ist. Sie haben 1986 und 1987 gedreht – hätten Sie sich vorstellen können, dass sie bald verschwunden sein würde?

Wim Wenders Die Mauer war in unserer Vorstellung noch für lange Zeit unverrückbar. Für alle, die an dem Film mitgearbeitet haben. Dass sie zu unseren Lebzeiten verschwinden würde, war eine Hoffnung. Aber schon zwei Jahre später? Undenkbar! Wenn unsere Engel sich einfach hindurchbeamen konnten, dann war das ein tolles Privileg. Aber andere, echte Menschen, Berliner? Das wäre eher Science-Fiction gewesen.

ARTE Magazin Wie haben Sie West-Berlin damals erlebt?

Wim Wenders Man hatte durchaus dieses Insel-Gefühl. Rundherum war gewissermaßen die gleiche Himmelsrichtung: „der Osten“. Die Mauer war, so komisch das jetzt klingen mag, auch eine Art Schutz. In West-Berlin gab es wenig Gewalt und wenige Waffen. Übeltäter kamen ja nicht so leicht raus. Das hatte etwas für sich. Für junge Männer gab es in West-Berlin keine Wehrpflicht. Und auf Künstler und Musiker aus der ganzen Welt übte die Stadt eine große Anziehungskraft aus. Deswegen lebten selbst australische Punks dort, wie Nick ­Cave mit seinen Bad Seeds oder die Band Crime and the City Solution. Die waren schon „Grunge“, lange bevor sie das Wort dafür in den USA erfunden haben. Ganz Berlin war ja eigentlich „Grunge“. Dort lebte es sich anders als im Rest der Welt. Es gab weniger Regeln und jeder war seines Glückes Schmied.

Wim Wenders auf dem Laufsteg
Wenders 2024 als Model für ­Yohji ­Yamamoto bei einer Modenschau in Paris. Den japanischen Designer hatte er 1989 in „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ porträtiert. Foto: Francois Durand / Getty Images

ARTE Magazin In Ihrem Film „Falsche Bewegung“ fällt der Satz: „Ich möchte etwas schreiben, was ganz und gar notwendig ist.“ Ist das, bezogen aufs Filmemachen, auch Ihr Anspruch?

Wim Wenders Ich fürchte, das wäre sehr langweilig. Im Idealfall funktioniert es umgekehrt: Es gelingt einem etwas, was den Menschen guttut, was sie gerne sehen, was ihnen etwas gibt, sodass sie sich sogar vorstellen könnten, es noch einmal zu sehen. Und wenn dann bei manchen der Eindruck entsteht, dass sie etwas Notwendiges gesehen haben, ist das natürlich schön. Aber von vornherein etwas Notwendiges machen zu wollen: Das kann nur in die Hose gehen.

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