Unrecht gewinnt

Deutsche Unternehmen waren an NS-Verbrechen wie der Plünderung jüdischer Vermögen und ­Zwangsarbeit beteiligt. Davon ­profitierten sie auch über 1945 hinaus.

Schwarz-Weiß-Foto eines Leitz-Orders mit den Lohnlisten sogenannter Ostarbeiter
Der Ordner mit den Lohnlisten sogenannter Ostarbeiter zeigt, wie noch kurz vor dem Zusammenbruch der NS-Diktatur 1945 Zwangsarbeit penibel erfasst wurde. Foto: bpk/Deutsches Historisches Museum/Sebastian Ahlers

Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, die D-Mark und der VW-­Käfer stehen für den Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren. Die aus Fleiß und Reformpolitik gespeiste Erfolgssaga aber idealisiert manches – und blendet die unliebsame Vorgeschichte aus. Denn der wirtschaftliche Neustart vollzog sich nicht nur auf den sichtbaren Trümmern des „Dritten Reichs“, er gründete auch auf verdrängtem Unrecht im Nationalsozialismus: der sogenannten Arisierung und dem millionenfachen Einsatz von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs. Bezeichnend ist laut dem Historiker ­Alexander ­Nützenadel der Begriff „Stunde Null“. Der habe eine wichtige psychologische Funktion kollektiver Entlastung gehabt, nach dem Motto: „Alles ist vorbei, und wir fangen noch mal ganz von vorne an.“ Im ARTE-Dokumentarfilm „Geraubtes Wirtschaftswunder – Die übertünchte Vergangenheit der Deutschen“ stellt der Experte von der Berliner Humboldt Universität klar: „Eine Stunde Null hat es nie gegeben.“

Geraubtes Wirtschaftswunder – Die übertünchte ­Vergangenheit der Deutschen

Dokumentarfilm

Freitag, 12.9. — 20.15 Uhr
bis 11.10 auf arte.tv 

Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 hatte die wirtschaftliche Ausgrenzung und die Vernichtung jüdischer Gewerbetätigkeit begonnen. Im Deutschen Reich lebten damals rund 500.000 Juden, die schätzungsweise 100.000 Betriebe führten – vom kleinen Krämerladen bis zum Großunternehmen. Durchaus erfolgreich habe die NS-Propaganda verfangen, die „Arisierung“ sei eine „Wiedergutmachung am deutschen Volk, weil die Juden Volkseigentum geraubt“ hätten, erläutert der Historiker ­Constantin ­Goschler. Nach 1945 habe sich dann zur Rechtfertigung ein neues Narrativ verbreitet, so der Wissenschaftler von der Ruhr-Universität Bochum im Gespräch mit dem ­ARTE ­Magazin: Mit der „Arisierung“ hätte man die Juden gewissermaßen „beschützt und ihnen mit Geld geholfen, damit sie noch rechtzeitig fliehen konnten“.

In den westlichen Besatzungszonen begannen die Militär­regierungen schon bald mit Rückerstattungen an jüdische Holocaust-Überlebende, deren Erben oder – für erbenloses Vermögen – an Rechtsnachfolge-Organisationen wie die Jewish Restitituion Successor Organization, die später in der Jewish Claims Conference aufging. „Vor allem die Amerikaner waren an stabilen marktwirtschaftlichen Verhältnissen interessiert“, sagt ­Goschler, „und die sind an klare Eigentumsverhältnisse geknüpft.“ Vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Kriegs „wollte man einen verlässlichen, ökonomisch robusten westlichen Staat schaffen, der den Verlockungen des Kommunismus gegenüber nicht anfällig war“.

Alliierte Rückerstattungsgesetze wurden erlassen, zunächst 1947 in der US-amerikanischen, wenig später in der britischen und der französischen Besatzungszone. Es gab enge Antragsfristen, Mitte der 1950er Jahre waren die Verfahren weitgehend abgeschlossen. Aus Sicht des Forschers sei es nicht um „absolute Gerechtigkeit“ gegangen, sondern darum, wirtschaftsschädliche Streitfälle zu beseitigen. In aller Regel wurden Vergleiche geschlossen. Für den Historiker steht fest: „Die Rückerstattung hat im Endeffekt das Ergebnis der ,Arisierung‘, die große Umschichtung, zementiert.“ Die Profiteure, nun „Ariseure“ genannt, hätten zwar etwas bezahlt – aber in vielen Fällen angeeignete jüdische Besitztümer behalten können.

Kein Unrechtsbewusstsein

Weitaus zäher gestaltete sich das Thema Entschädigung von Zwangsarbeitern, von denen rund 13 Millionen aus ganz Europa im Deutschen Reich eingesetzt waren. „Etwas verbindet die Prozesse, also die Enteignung und die Zwangsarbeit: Beide waren im Wesentlichen lange Zeit mit keinem Unrechtsbewusstsein verknüpft“, erklärt ­Goschler. Bei Verfahren vor dem Nürnberger Militärtribunal reagierten angeklagte Industrielle wie Friedrich Flick empört darauf, als Kriegsverbrecher abgestempelt zu werden. Es sei beim Streit um die Entschädigung weniger ums Geld gegangen, meint der Experte: „Sie haben nicht akzeptiert, dass sie zahlen sollten, weil das einem Schuldeingeständnis gleichgekommen wäre.“ Strittig sei, inwieweit die Firmen von der Zwangsarbeit auf lange Sicht profitiert haben. Er sieht sehr wohl einen Zusammenhang zwischen der sklavenartigen Beschäftigung in der NS-Diktatur und dem bundesdeutschen Wirtschaftswunder: „Weil es keine anderen Arbeiter gab, konnten Unternehmen in vielen Fällen mit Zwangsarbeitern ihre Produktion aufrechterhalten und damit auch den Kapitalstock ausbauen. Dieser ermöglichte dann als wesentliches Fundament den relativ schnellen wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach 1945.“

Schützenhilfe leisteten die US-Amerikaner der jungen Bundesrepublik und ihrer Wirtschaft 1952 bei der Londoner Schuldenkonferenz. Gegen Ansprüche ziviler Zwangsarbeiter aus den Teilnehmerstaaten wurde eine Formel in das Abkommen aufgenommen, die deutsche Unternehmen rückwirkend zu Agenten des Deutschen Reichs erklärte und damit dem Staat alle Verantwortung zuschob. Daraus resultierende Reparationen und Wiedergutmachungen sollten im Rahmen eines Friedensvertrags abgehandelt werden – den es formal nie gab. Im Jahr 2000, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet, die der Bund und deutsche Unternehmen jeweils mit rund fünf Millionen Euro für – eher symbolische – Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter finanzierten.

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