Was treibt einen Menschen an, immer wieder sein Leben zu riskieren – für ein Bild? Diese Frage stellen sich wohl viele, wenn sie die Aufnahmen von Anja Niedringhaus betrachten. Ihre Fotos sind in Kriegs- und Krisengebieten wie dem Gazastreifen, in Israel, Kuwait, Libyen, Pakistan oder Afghanistan entstanden. Sie zeigen bettelnde Frauen, gehüllt in farbenfrohe Tücher, einen Taubenzüchter beim Füttern seiner Vögel, Kinder, die zwischen Trümmern spielen – Alltagsszenen inmitten des Ausnahmezustands. Für Niedringhaus war der Sinn ihrer Arbeit schon früh klar. „Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt“, sagte sie – und meinte damit das Leiden der Zivilbevölkerung, das in der Berichterstattung oft übersehen wird. An der Front war sie daher selten zu finden. „Ich bin ja nicht auf der Suche nach diesem Bäng-Bäng“, erklärte sie 2011 in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur. Wichtiger sei es ihr gewesen, zu zeigen, wie Menschen inmitten des Krieges ihren Alltag bewältigen, wie sie überleben. Es ist dieser empathische Blick, der ihr Werk ausmacht, wie die ARTE-Dokumentation „Den Menschen im Fokus – Die Kriegsfotografin Anja Niedringhaus“ anhand von Archivmaterial und Interviews mit Kollegen und Freundinnen der Pulitzer-Preisträgerin zeigt. Der Film ist auch eine Hommage: Obwohl sie stets umsichtig vorging, verlor Anja Niedringhaus 2014 bei einem ihrer Einsätze ihr Leben – sie wurde bei einem Attentat in der afghanischen Provinz Khost erschossen.
KRIEGE IN ECHTZEIT AUF SOCIAL MEDIA
Seit dem Tod von Anja Niedringhaus vor rund elf Jahren hat sich die Kriegsberichterstattung tiefgreifend gewandelt – vor allem durch die sozialen Medien. Während Niedringhaus ihre Aufnahmen oft erst nach Stunden oder gar Tagen übermitteln konnte, „senden Fotografinnen und Fotografen ihre Bilder heute direkt in die Redaktionen oder veröffentlichen sie auf Social Media“, sagt im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Das gestiegene Tempo erzeuge enormen Konkurrenzdruck. Hinzu kommt: Viele Fotografen sind heute ohne Versicherungsschutz und ohne die Rückendeckung von Agenturen unterwegs. Eine Entwicklung, die auch die NGO Reporter ohne Grenzen 2024 in einem Bericht kritisch beleuchtet.
Ein besonders prägnantes Beispiel für den Wandel in der Kriegsberichterstattung ist laut Behmer der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser gilt als einer der am umfassendsten dokumentierten Konflikte der Geschichte – allerdings nicht primär durch professionelle Fotografinnen und Fotografen. Im Internet kursieren täglich neue Bilder und Videos von Truppenbewegungen, zerstörtem Militärgerät oder Bombeneinschlägen – zumeist aufgenommen von Soldaten oder Zivilisten. Manche der Aufnahmen sollen informieren, andere dienen der gezielten Propaganda. Oft werden sie ungeprüft über Plattformen wie TikTok verbreitet. Die Algorithmen sozialer Netzwerke verleihen ihnen wiederum eine Eigendynamik: Diese bevorzugen drastische, emotional aufgeladene Inhalte, die viel Aufmerksamkeit erregen. Hierdurch erhalten bestimmte Narrative enorme Reichweite, während andere kaum Sichtbarkeit erlangen.
Die Macht von Kriegsbildern war schon lange vor dem Social-Media-Zeitalter bekannt. Bereits im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) wurden Fotos von Schlachtfeldern gezielt inszeniert. Eine Zäsur markiert der Erste Weltkrieg: Er gilt als Beginn der systematischen Nutzung von Kriegsbildern und -filmen zu propagandistischen Zwecken. Eigens eingerichtete Behörden, in Deutschland etwa das Bild- und Filmamt (BUFA), übernahmen die Kontrolle über die Produktion, Zensur und Verbreitung der Aufnahmen. Heute, im digitalen Zeitalter, bestimmen nicht mehr nur Regierungen oder Medienhäuser, welche Fotos um die Welt gehen. Stattdessen entstehen auf Social Media neue Formen der Kriegsberichterstattung, aber auch neue Risiken: Die Grenze zwischen Dokumentation und gezielter Desinformation lasse sich kaum noch eindeutig ziehen, warnt Behmer. Insbesondere, da die Verbreitung von Deepfakes oder irreführend kontextualisierten Bildern inzwischen ein fester Bestandteil moderner Kriegsführung sei.
Anja Niedringhaus’ erklärtes Ziel, mit Fotos zur Beendigung von Kriegen beizutragen, scheint vor diesem Hintergrund eher utopisch – ein Anspruch, den sie im Laufe ihrer Karriere selbst relativierte. Was ihr jedoch stets blieb, war das tiefe Interesse an den Menschen. Und die Fähigkeit, inmitten von Chaos Momente der Hoffnung zu entdecken.






