»Schreiben heißt für mich Verstehen«

Zwischen Russland und Europa: Georgien ist im Umbruch. Die Autorin Nino Haratischwili seziert in ihren Romanen prägende Jahrzehnte der Geschichte des vielschichtigen Landes.

Georgische Autorin Nino Nino Haratischwili
Die in Berlin lebende Schriftstellerin und Dramatikerin Nino Haratischwili wuchs in Georgien auf. Ihr Familienepos „Das achte Leben“ (2014) ist ein weltweiter Bestseller. 2023 erhielt sie die Carl-Zuckmayer-Medaille. Foto: Daniela Merz

Die Autorin Nino Haratischwili spricht so unterhaltsam, wie sie schreibt. Ihre Sätze sind anekdotenreich, voller Metaphern und historischer Bezüge. Kein Wunder, dass kaum einer ihrer fünf Romane mit weniger als 800 Seiten auskommt. In den Büchern zeichnet sie anhand von individuellen Schicksalen die großen Linien der Geschichte Georgiens und seiner Nachbarländer nach. Dabei beschäftigt sie sich besonders mit den Krisenzeiten und den Langzeitfolgen von Krieg und Gewalt: Wie die jüngsten Proteste in Tiflis gegen das geplante sogenannte Agentengesetz zeigen, ist das Land bis heute gespalten zwischen europäischen und russischen Einflüssen. In ihrem Roman „Das mangelnde Licht“ beschreibt ­Haratischwili die Zeit  im umkämpften postsowjetischen Georgien der 1990er Jahre. Das Buch erschien im Februar 2022 – zwei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine.

Nino Haratischwili: Georgien hat mich nie verlassen

Porträt

Mittwoch, 31.5. — 22.30 Uhr
bis 28.8. in der Mediathek

ARTE Magazin Frau Haratischwili, hat „Das mangelnde Licht“ durch den russischen Angriffskrieg eine unfreiwillige Aktualität erhalten? 

NINO HARATISCHWILI Diese Frage wurde mir in den ersten Monaten nach dem Erscheinen des Buches oft gestellt. Ich war zu dieser Zeit auf Lesereise, und ich habe gespürt, wie sehr viele Menschen der geschichtliche Kontext des Kriegs umgetrieben hat; viele haben mich nach Erklärungen gefragt. Mir war es dabei wichtig, deutlich zu machen, dass es nie an Warnungen gefehlt hat. ­Putin hat ab 1999 einen Krieg in Tschetschenien geführt, 2008 folgte Georgien, 2014 die Ukraine, 2015 Syrien. Die permanente Bedrohung durch Russland ist mir sehr vertraut. Dennoch habe ich versucht, einen gewissen Abstand zu den Nachfragen aufzubauen. Bei allen Parallelen, die sich zu Georgien ziehen lassen, käme es mir anmaßend vor, für die Ukrainerinnen und Ukrainer zu sprechen.

ARTE Magazin Was treibt Sie an, sich in Ihren Büchern und Theaterstücken so intensiv mit der Geschichte Georgiens zu beschäftigen?

NINO HARATISCHWILI Mein Schreiben wird natürlich durch die Zeit beeinflusst, die ich in meiner Kindheit und Jugend miterlebt habe. Damit setze ich mich, seit ich mit Anfang 20 zum Studieren nach Deutschland gezogen bin, tiefergehend auseinander. Es beschäftigt mich, wie die in Georgien omnipräsente Gewalt sehr viele Menschen geprägt hat. Anarchie, Bürgerkrieg, zerbrechende Gewissheiten, die ständigen Stromausfälle und das Heroin, das so viele Existenzen vernichtet hat. In gewisser Weise wurden alle Georgier durch diese extremen Erfahrungen gebrandmarkt. In „Das mangelnde Licht“ wollte ich aus einer Frauenperspektive von der patriarchalen und brutalen Kriegszeit erzählen. Während damals die Männer durch die Kämpfe vereinnahmt oder von ihren Depressionen aufgefressen wurden, haben die Frauen mit sehr viel Improvisation im Hintergrund dafür gesorgt, dass ein Überleben in der georgischen Gesellschaft irgendwie möglich war und auch Weiterentwicklung stattfand. 

ARTE Magazin Wollen Sie mit ihren Büchern gezielt eine größere öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation Georgiens im Ausland erreichen? 

NINIO HARATISCHWILI Das ist für den Schreibprozess tatsächlich eher sekundär. Aber ich freue mich, wenn meine Arbeit international zu einer größeren Sensibilität für die komplexen Verhältnisse in Georgien führen. Angeregt durch „Das achte Leben“ sind viele Menschen in mein Land gereist, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Für mich stehen jedoch immer die unbeantworteten Fragen im Vordergrund, die ich mir selbst stelle – ob zu menschlichen Schicksalen oder geschichtlichen Zusammenhängen. Schreiben heißt für mich Verstehen. 

 

Die Schriftstellerin Nino Haratischwili erzählt in ihren Büchern tiefgehende Geschichten zu Georgien
Die Schriftstellerin erzählt in ihren Büchern tiefgehende Geschichten zu Georgien. Der Film begleitet sie in ihre Geburtsstadt Tiflis und taucht mit Archivmaterial in die postsowjetische Krisenzeit der 1990er Jahre ein. Foto: Eva Gerberding/RB

ARTE Magazin Gibt es in Georgien eine Tradition des Geschichtenerzählens, die Ihr Schreiben geprägt hat?

NINO HARATISCHWILI Was in Georgien sicherlich eine große Rolle spielt, ist die Kultur unserer Feste und Feiern. Diese Anlässe sind meist mit einer Tafel verbunden, an der man in großer Runde zusammensitzt. Dazu gibt es einen sogenannten Tamada, einen Tischredner, der zu jedem Trinkspruch eine Geschichte erzählt. Wenn jemand diese Rolle gut ausfüllt, können die Themen, die er vorgibt, die Tischgesellschaft ins Gespräch bringen und zusammenschweißen. Außerdem bin ich in einer Zeit groß geworden, in der das Erzählen von Geschichten und das Lesen von Büchern eine Überlebensstrategie war. Gerade für Heranwachsende gab es in dieser zerrütteten Zeit kaum bessere Ablenkung.

ARTE Magazin Sie haben einmal gesagt, dass Ihre Großmutter Sie an die Welt der Bücher herangeführt habe. 

NINO HARATISCHWILI Meine Großmutter war Wissenschaftlerin mit einer Leidenschaft für Literatur und besaß eine große Bibliothek. Wenn ich ihr als Kind Fragen gestellt habe, hat sie immer mit Geduld und hingebungsvoller Ausführlichkeit geantwortet. Ihre Erklärungen, auch zu ganz banalen Dingen, hatten oft die Form kleiner Vorträge. Außerdem hat sie mir viel vorgelesen.

ARTE Magazin Sie arbeiten nicht nur als Romanautorin, sondern auch fürs Theater. Wie kam es dazu?

NINO HARATISCHWILI Meine erste Theatergruppe habe ich als Teenager in dieser düsteren Zeit in Georgien gegründet. Mich faszinierte, wie andere Menschen Texte, die ich geschrieben habe, durch ihre Körper und Stimmen lebendig werden lassen konnten. Später habe ich das Inszenieren dann zu meinem Beruf gemacht, in dem ich Film- und Theaterregie studierte. Inzwischen sehe ich die Arbeit am Theater als wunderbare Abwechslung zu dem eher zurückgezogenen Schreiben im stillen Kämmerlein. Gerade arbeite ich an einer Trilogie über antike Königinnen. Ich liebe die Universalität, die sich in den Stoffen der Antike oftmals findet, die Verrücktheit der Weltanschauungen, aber auch die Logik, die letztlich hinter allem steckt.