Mit Mumm und Magnum

Hart und frei: Die Leitmotive in Clint Eastwoods Werken spiegeln die Sehnsüchte und Ängste der US-Gesellschaft.

schwarz-weißes Porträt von jungem Clint Eastwood
Lässig: Clint Eastwood 1960 im Filmstudio in Los Angeles, das die Western-Reihe „Tausend Meilen Staub“ produzierte. Foto: CBS / Getty Images

Es ist vielleicht nur einmal vorgekommen in den vergangenen Jahrzehnten, dass Clint ­Eastwood den Kontakt zur kollektiven amerikanischen Psyche kurz verloren hatte. Da saß er, als vierfacher Oscarpreisträger längst weltbekannt, auf einer Bühne in Florida und sprach mit einem leeren Stuhl. Er hatte sich vorgenommen, dem republikanischen Präsidentschaftsanwärter Mitt ­Romney zum Wahlsieg gegen ­Barack ­Obama zu verhelfen, und führte nun im Sommer 2012 mit 82 Jahren zur besten Sendezeit eine Art Sketch auf. Er sprach zu einem imaginären ­Barack ­Obama auf dem leeren Stuhl über dessen angebliche politischen Versäumnisse.
Eastwoods Darbietungen hatten im Laufe seiner Karriere immer mal wieder Irritation, Widerspruch oder gar Abscheu ausgelöst. Doch was ­Eastwood, ob als Darsteller oder Regisseur, seinem Publikum zeigte, hatte immer mit kollektiven Sehnsüchten oder Ängsten der US-Nation zu tun. Es bedeutete etwas. Nie hatte man sich, wie nach dem Obama-­Sketch, die Frage gestellt: Was sollte das jetzt?

Teile der linksliberalen Öffentlichkeit (und damit fast ganz Hollywood) hatten ­Eastwood angesichts seines Auftritts auf dem Parteitag aufgegeben. Ja, er sei über ein halbes Jahrhundert lang ein Leitstern der amerikanischen Seele gewesen, eine Ikone, übrig geblieben aus jener popkulturellen Ära des 20. Jahrhunderts, in der das Kino tatsächlich so etwas wie einem gesellschaftlichen Kollektivbewusstsein Gehör verschaffte. Die Figuren, die Eastwood über die Jahrzehnte zum Leben erweckt hatte – von ­Harry ­Callahan („Dirty Harry“, 1971) über Frank ­Horrigan („In the Line of Fire“, 1993) zu Walt ­Kowalski („Gran ­Torino“, 2008) –, spiegelten immer den jeweiligen Zustand der Gesellschaft und ihre unterliegenden Parameter und Diskurse. Im Jahr 2012 – nach ungefähr 50 Filmen als Schauspieler und zirka 20 als Regisseur – war er jedoch plötzlich: alt. Und so sah er ja auch aus. Wie ein alter weißer Mann, hätte man sagen können. Vor zehn Jahren gab es diese Zuschreibung noch nicht, zumindest nicht als Kampfbegriff – und sie wäre auch falsch gewesen. Denn in den Jahren seit jenem Sketch hat ­Eastwood als Regisseur weitere sieben Filme gedreht (in manchen war er auch Hauptdarsteller oder Produzent), die in unterschiedlichem Ausmaß alle fortführten, was „Gran Torino“ von 2008 begonnen hatte: eine Art Rekalibrierung der frühen Eastwood-­Positionen (Härte, Unnachgiebigkeit, Einsilbigkeit, Machismo, Gewaltbereitschaft), ein stellenweise schmerzhafter Revisionismus früherer Positionen. Der alte Mann als Figur in ­Eastwoods Filmen, aber auch ­Eastwood selbst, wird nicht starrsinniger, sondern offener für das Aushalten von Widersprüchen und Ambivalenzen, meist hervorgerufen von den Fehlern und Verletzungen der Vergangenheit. Ein guter Mensch zu sein innerhalb der Begrenzungen des eigenen Ichs und der eigenen Geschichte – das ist das Leitmotiv von Eastwoods Schaffen in seinem neunten Lebensjahrzehnt: Um Wunden von früher, die man sich achtlos selbst zugefügt hat, geht es in seinem bis dato letzten Film, „Cry Macho“ (2021), in dem ­Eastwood eine Art moralisch geläuterten Dirty ­Harry spielt, der von neuen weniger prinzipienfesten Dirty ­Harrys seiner Enkelgeneration aufgemischt wird.

Ein Fressen für die Geier

Western

Sonntag, 20.11. — 20.15 Uhr

Spielszene, Clinton als Dirty Harry
Als „Dirty Harry“ (1971) avancierte Clinton zum Hollywood-Liebling. Foto: Screen Collection / Getty Images

Der Film, der Eastwoods reuevolle Selbstbefragung am deutlichsten formuliert hat, ist jedoch „The Mule“ von 2018. Er zeigt, wohin die Geschlechterzuschreibungen, die er in seinen Paraderollen als ­Harry ­Callahan oder Frank ­Horrigan manifestiert hat, uns 50 Jahre später geführt haben: zu Schmerz, Leid und Enttäuschungen. Und zu Männern, die in die Kriege in Korea oder Vietnam gezogen sind, anschließend ihr Leben an persönlichem Erfolg und Vergnügen ausgerichtet, Frauen verlassen, Kinder vernachlässigt haben und dabei im ständigen Nebel ihrer emotionalen Selbstverstümmlung und Verwirrung umhergetapst sind und dies für männlich hielten. ­Eastwood deutet mehr als an, dass er selbst einer dieser Männer gewesen sein könnte. Der von ihm in „The Mule“ gespielte Earl Stone hat wie ­Eastwood die 80 längst überschritten, sieht dazu aus und spricht wie ­Eastwood. Er ist, wie auf der Nummernschild-Halterung seines Pick-ups zu lesen ist, ein „Korean War Veteran“, genauso wie Walt ­Kowalski, der alte weiße Mann aus „Gran Torino“. Beide ziehen auch noch als Senioren ihre Unerschrockenheit gegenüber den Gefahren moderner Zivilisation (Jugendgangs, Drogendealer) aus den Kriegserfahrungen in Korea. Auch ­Eastwood war 1951 zum Wehrdienst in Korea eingezogen worden, wurde jedoch niemals an die Front versetzt, sondern blieb in Kalifornien in der Kaserne.

Earl Stone ist ein Blumenzüchter aus Illinois, der sich sein Leben lang zwar hingebungsvoll um seine preisgekrönten Blumen gekümmert hat, aber überhaupt nicht um seine Frau und Tochter. Er hat sie so oft hängen lassen, dass er inzwischen, am Ende seines Lebens, in der Familie unwillkommen ist. Seine Tochter hat zwölfeinhalb Jahre zuvor aufgehört, mit ihm zu sprechen. Es ist möglicherweise mehr als ein dezenter Hinweis auf biografische Parallelen, dass ­Eastwood eine seiner echten Töchter, ­Alison ­Eastwood, gebeten hat, die Rolle der Tochter in „The Mule“ zu übernehmen. ­Eastwood selbst hat mindestens acht Kinder, ehelich und unehelich, von sechs verschiedenen Frauen. Das muss nicht, könnte aber sehr gut bedeuten, dass auch er einige Menschen hat hängen lassen in seinem Leben. Trotzdem kamen zur Premiere von „The Mule“ eine Ex-Frau und die aktuelle Freundin sowie alle acht Kinder. Auch Earl versöhnt sich am Ende reuevoll mit seiner Frau an ihrem Sterbebett. Doch er möchte weiter bestraft werden und geht, ohne sich vor Gericht zu verteidigen, ins Gefängnis. Er hatte, nachdem sein Blumengeschäft durch Online-Floristen zerstört wurde (so zumindest erklärt Earl es sich), angefangen, für ein Drogenkartell Kokain von El Paso nach Detroit zu schmuggeln – und war als weißer Pick-up-Fahrer im Seniorenalter und mit Veteranen-Plakette natürlich nahezu perfekt getarnt. Die Gefängnisstrafe scheint er im Gerichtssaal in Anwesenheit seiner ihn nun wieder liebenden Angehörigen zufrieden zu akzeptieren, allerdings eher für sein Fehlverhalten gegenüber seiner Familie und nicht für die Kurierfahrten. Er glaubt, er verdiene die Strafe, weil es in seinem Koordinatensystem so etwas wie bedingungslose Vergebung trotz aller Selbstbefragung dann doch nicht gibt.

Clint Eastwood: Der Letzte seiner Art

Dokumentarfilm

Sonntag, 20.11. — 22.05 Uhr

bis 19.3.23 in der Mediathek

Damit schließt er an das Männlichkeitsbild seiner Figuren aus dem 20. Jahrhundert an, vor allem an das des San-­Francisco-Cops ­Harry ­Callahan. „Nichts ist falsch daran zu schießen, solange die Richtigen erschossen werden“, ist (neben „Make my day“, das sogar von Präsident ­Ronald ­Reagan zitiert wurde) eine der berühmteren Aussprüche von Dirty Harry. Er blieb gegenüber dem als böse oder falsch Erkannten unerbittlich, und überall, wo es bloß Schwarz-Weiß-Zuschreibungen gibt, wird es mit Vergebung schwierig. Harry Callahan, als er 1971 auf den Plan trat, war einer der ersten gebrochenen Massenhelden, die der US-amerikanischen Psyche zugeführt wurden und dort sofort verfingen. ­Eastwood war damals schon berühmt. Das Publikum kannte ihn vor allem als den eindimensional guten Cowboy aus der TV-Serie „Tausend Meilen Staub“, den Eastwood ab Ende der 1950er gespielt hatte. Ab Mitte der 1960er dann erste ironische Brechungen hin zum Antihelden in den drei Sergio-­Leone-Spaghettiwestern („Für eine Handvoll Dollar“, „Für ein paar Dollar mehr“ sowie „Zwei glorreiche Halunken“).

Nichts ist falsch am Schießen, wenn es die Richtigen trifft

Clint Eastwood als Harry Callahan in „Dirty Harry“
Clint Eastwood in
Genius: In „Die Brücken am Fluß“ (1995) ist Clint ­Eastwood Regisseur, Produzent, Hauptdarsteller. Foto: picture alliance / Mary Evans Picture Library
Eastwood in „Für ein paar Dollar mehr“
Eastwood im Italo-­Western „Für ein paar Dollar mehr“ (1965) von ­Sergio ­Leone. Foto: picture alliance / Everett Collection

Romantisierte Form von Gerechtigkeit

Und dann kam Dirty Harry, um ausgerechnet in San Francisco aufzuräumen, wo sich seit Mitte der 1960er der mit dem Zustand des Projekts Amerika eher unzufriedene und experimentierfreudige Teil der Bevölkerung sammelte. ­Dirty ­Harry kam, um die alte Ordnung wiederherzustellen – allerdings nicht im Sinne der Bürokraten und Gesetzestreuen, sondern in der archaischen, in Westernfilmen romantisierten Form von Gerechtigkeit und Vergeltung. Dieser simple und durch ­Harry ­Callahan überzeugend vertretene moralische Kompass fand überwältigende Resonanz in der amerikanischen Bevölkerung, die angesichts des Vietnamkriegs, der Verslumung der Innenstädte, einer Heroinepidemie und den Attentaten auf die Kennedy-­Brüder Bestärkung und Rückhalt suchte. ­Eastwood zeigte ihnen, dass sich Probleme mit Mut und einer 44er Magnum relativ einfach selbst lösen ließen. Diese Einstellung ist in den Post-Trump-USA wieder spürbar wie selten zuvor. Außerhalb der großen Städte sieht man in den Vorgärten die Schilder mit der Aufschrift „Don’t treat on us!“ (Steigt uns nicht aufs Dach!). Gemeint sind die Regierenden in Washington und die liberalen Eliten der Metropolen. Lasst uns etwa mit all euren komplizierten Vorschriften zum Umgang mit Hautfarbe, Sexualität und Identität in Ruhe, ansonsten steht hier die Schrotflinte geladen im Schuppen. Auch Clint ­Eastwood bezeichnet seine politische Verortung als libertär, was genau diese Haltung beschreibt. Doch Filmemachen handelt für ­Eastwood davon, sich auszumalen und durchzuspielen, was uns Angst macht. Indem er diese Angst in seinen Filmen visualisierte, fand er Rezepte gegen sie, die er über die Jahrzehnte immer wieder neu verhandelt und kalibriert hat.

Nun, an seinem Lebensende, sind es die Folgen seiner Rezeptur, die ­Eastwood beunruhigen. Er versucht den ­Dirty ­Harry in uns wieder einzufangen und ihn kurz in der Garage ein bisschen zu überarbeiten, für sich selbst und für uns alle. Ihm dabei zuzusehen, gehört immer noch zum Besten, was das verblühende Hollywood zu bieten hat.