Der Jubel nach dem Leid

Aus dem wüsten Rocker von einst ist der weltgrößte musizierende Wanderprediger geworden: Wenn Nick Cave heute Konzerte spielt, zelebriert er Messen. Freude und Schmerz liegen dabei nah beieinander.

Nick Cave mit Zigarette in der Hand
Nick Cave thronte im Jahr 1997 über den Dingen – seine Drogeneskapaden hatte er überlebt, die Popkultur lag ihm zu Füßen. Bis heute füllt der Sänger die großen Hallen. Foto: picture alliance/DALLE APRF

Energisch schreitet er die Bühne auf und ab, schüttelt Hände, zuckt, fällt auf die Knie, streckt seine Fäuste zum Himmel, breitet die Arme aus und zieht das gesamte Publikum mit seiner Aura in den Bann. Der Konzertmitschnitt vom 17. November des vergangenen Jahres in Paris zeigt Nick Cave als den wohl weltgrößten musizierenden Wanderprediger. Im Rahmen seiner „Wild God“-Tour hatte er in die Accor Arena zu einer Messe geladen, und die Gemeinde war, um im Bild zu bleiben, wie immer vollzählig erschienen.

Nichts hatte in der Karriere des jungen Nick Cave darauf hingedeutet, dass der Australier einmal mühelos riesige Hallen füllen würde – zu wüst, zu sperrig, zu offensiv unkommerziell war seine Musik in den 1970ern und 1980ern. Ja, wer Ian Whites Dokumentation „Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre“ gesehen hat, musste sich sogar wundern, dass Cave überhaupt so lange überlebt hat. All die Drogen! Doch nach den chaotischen Tagen als Sänger von The Birthday Party steht er nun schon seit 1984 mit seiner Band The Bad Seeds auf der Bühne. Und in jüngster Zeit wirkt er so wach und munter wie lange nicht mehr.

Dabei hatte es das Schicksal in den vergangenen zehn Jahren nicht gut mit Cave gemeint: 2015 kam sein Sohn ­Arthur im Alter von 15 bei einem Unfall ums Leben. 2020 verstarb mit 93 seine Mutter Dawn, ein letzter Besuch in Australien war wegen der Corona-Maßnahmen nicht möglich. Ein Jahr danach starb auch seine langjährige Freundin und frühe Wegbegleiterin ­Anita ­Lane; der Sängerin singt Cave auf seinem aktuellen Album „Wild God“ ein bezauberndes Lied zum Abschied. Und 2022 kam auch noch ­Jethro ­Lazenby mit 31 Jahren um, der älteste von Caves vier Söhnen.

Nick Cave and the Bad Seeds

Konzert

ab 7.4. in der
Mediathek

Doch nach den beiden Alben „Skeleton Tree“ (2016) und „­Ghosteen“ (2019), die auf eine noch viel profundere Weise verzweifelt und wolkenverhangen klangen, als man es von Nick Cave ohnehin gewohnt war, zog er nun mit seinem aktuellen Werk „Wild God“ entschlossen die Vorhänge auf. „Wir mussten alle so viel Trauer erleben“, singt er in dem Titel „Joy“, „jetzt ist die Zeit für Freude.“ Wobei es mit der „Freude“ bei Nick Cave so eine Sache ist. Der Mann ist 67 Jahre alt und kann natürlich auch nicht ganz aus seiner Haut heraus. Jahrzehnte seines Berufslebens hat er damit verbracht, den dunklen Seiten der menschlichen Existenz nachzuspüren. Den Figuren, die er in seinen Songs zum Leben erweckte, knippste er dabei meist nach wenigen Strophen das Licht wieder aus; die Mordrate in seinem Schaffen war lange Zeit alarmierend hoch. „Murder Ballads“ nannte er 1996 in einem Anflug von Selbstironie eines seiner tödlichsten und erfolgreichsten Werke. Darauf ist auch der Hit „Where the Wild Roses Grow“ zu hören, ein zartes Duett mit ­Kylie ­Minogue, die er im dazugehörigen Video wie zum Dank im Teich ertränkt.

Dass Nick Caves Sound über all die Jahre stets interessant blieb, liegt auch daran, dass die Besetzung der Bad Seeds kontinuierlich umgebaut wurde. ­Blixa ­Bargeld von den Einstürzenden Neubauten nahm 2003 als Gitarrist nach knapp 20 Jahren den Hut. Zur Tourbesetzung zählt mittlerweile hingegen etwa Bassist ­Colin ­Greenwood von der britischen Band ­Radiohead.

Nick Cave mit jubelndem Publikum
Angekommen: Nick Cave thronte im Jahr 1997 über den Dingen – seine Drogeneskapaden hatte er überlebt, die Popkultur lag ihm zu Füßen. Bis heute füllt der Sänger die großen Hallen. Foto: Cha Gonzales / ARTE Concert

Die musikalische Rekalibrierung des neuen, nunmehr freudigeren Cave setzt spätestens dann ein, wenn gleich zu Beginn des Londoner Konzerts der „Wild God“-Tour eine Art Kirchenchor zu jubilieren beginnt und er wie ein Prediger der Ekstase von jenem wilden Gott singt, der durch die Lüfte segelt und in all dem menschlichen Elend doch immer wieder ein wenig Trost und Schönheit entdeckt. Das ist die Freude, die Cave meint. Die Freude darüber, dass eben doch nicht alles nur schlecht ist. „Bring Your Spirit Down“ wird dazu in fetten Lettern auf die Leinwand projiziert. Oh, wilder Gott, lass Deinen Geist herniederfahren! Halleluja!

Auch wenn der Schwerpunkt auf dem aktuellen Album liegt, kommen auch die alten Hits nicht zu kurz: „The Mercy Seat“, das Lied über den bedauernswerten Mann, dem der Tod auf dem elektrischen Stuhl bevorsteht, „The Weeping Song“, jenes Duett mit ­Blixa ­Bargeld, dessen Part inzwischen das Publikum gern übernimmt, und auch „Tupelo“, jener Klassiker, der von ­Elvis ­Presleys Geburt erzählt, bis er irgendwann „Into My Arms“ anstimmt, um die nunmehr erschöpfte Gemeinde noch einmal fest an seine schmale Brust zu drücken.