Billiges Gas und Öl, kostbare Metalle, wichtige Finanzdienstleistungen und Infrastrukturprojekte, Medien, Chemikalien, Rüstungsgüter und mehr – nach dem Ende der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre und in den folgenden drei Jahrzehnten verhalfen lukrative Deals und gute Beziehungen zum Kreml etlichen russischen Unternehmern zu sagenhaftem Reichtum. Die sogenannten Oligarchen scheffelten Milliardengewinne, organisierten sich steuerbegünstigte Wohnsitze und kauften Luxusjachten und Fußballvereine, als gäbe es keine besseren Statussymbole. Zu den bekanntesten superreichen Russen zählen Wagit Alekperow, Gründer und Haupaktionär des Mineralölkonzerns Lukoil, Roman Abramowitsch, der maßgeblich am zweitgrößten russischen Stahlkonzern Evraz sowie an diversen Investmentfirmen beteiligt ist, oder auch Stahlmagnat und Nordgold-Haupteigner Alexei Mordaschow.
Dann befahl Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine. Und alles änderte sich schlagartig – zumindest ein bisschen, wenigstens eine Zeit lang. Dutzende Oligarchen wurden von der EU, Großbritannien, Australien, den USA und weiteren Nationen mit Sanktionen belegt, verloren Teile ihres Vermögens und grämten sich, weil ihre Jachten und Villen beschlagnahmt wurden oder weil sie im Westen keine Geschäfte mehr tätigen durften.
Die Flaute verflog rasch. Inzwischen laufen die Geschäfte für russische Großunternehmer, die ihrem woschd (zu Deutsch: Führer), wie Putin oft genannt wird, treu ergeben und an kriegswichtigen Firmen beteiligt sind, wieder fast so gut wie vor dem Krieg. Das haben unter anderem Recherchen des Finanzportals Bloomberg im Juli 2024 gezeigt. Demnach fuhr Lukoil-Großaktionär Alekperow im Fiskaljahr 2023/24 rund 186 Milliarden Rubel (etwa 1,6 Milliarden Euro) an Dividendenzahlungen ein. In Mordaschows Kasse flossen 148 Milliarden Rubel. Und Wladimir Lisin, Chef des Stahlriesen Novolipetsk, verbuchte 121 Milliarden Rubel an Dividenden. Ausschüttungen wie diese belegen, dass viele Oligarchen trotz der Sanktionen weiterhin gut im Geschäft sind – und von der weitgehend auf Kriegswirtschaft umgestellten russischen Industrieproduktion stark profitieren.
Dass die Oligarchen im dritten Kriegsjahr ihren Reichtum vermehrt haben, belegt auch die Forbes-Liste der weltweit vermögendsten Menschen: 2024 enthält sie die Rekordanzahl von 120 russischen Milliardären, 15 mehr als ein Jahr zuvor. Deren Gesamtvermögen belief sich demnach auf 537 Milliarden US-Dollar – eine Steigerung von 13 Prozent gegenüber 2023. Fast die Hälfte dieser Superreichen wurden zwar von westlichen Ländern mit Sanktionen belegt, ihre Einkünfte schmälerte das aber kaum: Rund zwei Drittel der sanktionierten Oligarchen waren 2024 reicher als im Vorjahr.
Für Ludmila Kozlowska, Präsidentin des pro-europäischen Thinktanks Open Dialogue Foundation (ODF) in Brüssel, ist die Entwicklung nicht überraschend. „Viele russische Unternehmen und Geschäftsleute haben sich seit Beginn des Krieges umorientiert und Abnehmer für ihre Produkte und Dienstleistungen etwa in China, Indien sowie zentralasiatischen und arabischen Ländern gefunden, die die Sanktionen nicht mittragen.“ Vor allem der Export von fossilen Brennstoffen, Erzen und anderen Rohstoffen laufe wie geschmiert, so Kozlowska. China importierte 2023 aus Russland 83 Prozent mehr Waren als vor der Invasion. Indien versechsfachte derweil sogar das Importvolumen aus Putins Reich. Und in die Türkei lieferten russische Unternehmen im selben Jahr 160 Prozent mehr an Warenwert als vor Beginn des Krieges. Die Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor.
Nicht nur in den neuen, lukrativen Ausweichmärkten rollt der Rubel. Große russische Chemiekonzerne etwa, an denen sanktionierte Oligarchen beteiligt sind, werden laut einer Ende Dezember 2024 veröffentlichten Recherche der Nachrichtenagentur Reuters vom Kreml auch direkt für die Kriegswirtschaft eingespannt. Zwischen Februar 2022 und September 2024 haben demnach fünf dieser Firmen insgesamt mehr als drei Viertel der für die Produktion von Artilleriegranaten und Sprengladungen benötigten Substanzen wie Salpetersäure und Essigsäure an Munitionshersteller in Russland geliefert. Zu den an diesen Chemiekonzernen beteiligten Milliardären gehören unter anderem Roman Abramowitsch und Wagit Alekperow, den das Wirtschaftsmagazin Forbes im vergangenen April als reichsten Mann Russlands bezeichnete – geschätztes Vermögen: 28,6 Milliarden Dollar.
Auch andere Waren, die auf den Sanktionslisten stehen, finden – oft auf verschlungenen Wegen – weiterhin ihre Abnehmer in Russland. Das zeigt die Dokureihe „Putins Oligarchen“, die ARTE im Februar ausstrahlt. Ob elektronische Bauteile für Raketen, Ersatzteile für Fahrzeuge und Maschinen oder auch Luxusgüter, die aus der EU nicht mehr nach Russland exportiert werden dürfen – der illegale Handel floriert.
Eine wichtige Rolle beim Umgehen der Sanktionen spielen die ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgisistan, Usbekistan und Kasachstan, sagt Robin Brooks, Ökonom am Brookings Institute in Washington, D. C., der die russische Ein- und Ausfuhrstatistik des Jahres 2023 untersucht hat. „Während vor dem Krieg vor allem China Exportgüter über die sogenannte Neue Seidenstraße in den Westen transportierte, gelangen seit Mitte 2022 immer mehr Waren aus den USA, Japan, und Westeuropa über Zentralasien und die Länder des Kaukasus nach Russland.“ Die G7-Nationen seien sich zwar darüber im Klaren, dass der Schattenhandel Putins Kriegswirtschaft stärke, so Brooks, „aber ihre Regierungen unternehmen zu wenig, um ihn zu stoppen – wohl auch aus Rücksicht auf die Interessen der heimischen Wirtschaft“.
Wie „Putins Seidenstraße“ (Brooks) funktioniert, zeigt das Beispiel des Exports von Sattelschleppern aus Finnland. Die Zugmaschinen gelten als sogenannte Dual-Use-Güter, da sie sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. In den Jahren 2002 bis 2022 hatte Finnland insgesamt sieben dieser schweren Lastwagen nach Kasachstan exportiert. 2023 waren es laut Recherchen der Wirtschaftszeitung Kauppalehti auf einmal 67 Fahrzeuge dieser Art. Kasachstan hätte demnach 2023 fast zehnmal so viele Sattelschlepper aus Finnland importiert wie in den vorangegangenen 20 Jahren zusammen. Die meisten von ihnen seien nach Russland weiterexportiert worden, mutmaßte die Open Dialogue Foundation in einem Report von März 2024.
Der rege Handel mit schweren Lkw und anderen Dual-Use-Produkten blieb der kasachischen Regierung, die sich zum Ukrainekrieg „neutral“ positioniert hatte, anscheinend nicht verborgen, meint Analyst Brooks: „Im Herbst 2023 sanken die Ausfuhren aus Kasachstan nach Russland wieder auf das Vorkriegsniveau. In Astana hatte man wohl beschlossen, aus dem Umschlaggeschäft auszusteigen.“ Inzwischen habe das Land ein elektronisches System zur Rückverfolgung von Waren eingeführt, um sicherzustellen, dass Sanktionen nicht über sein Territorium umgangen werden.

SCHLUPFLÖCHER IM FINANZSEKTOR
Derweil nutzten russische Oligarchen, die ihr Vermögen aus der Schusslinie bringen wollten, Kasachstan ebenfalls als Option. Einer von ihnen ist Timur Turlow, milliardenschwerer Gründer und Vorstandschef der seit 2019 an der US-Börse Nasdaq notierten Investmentfirma Freedom Holding Corporation. Anfang 2023 verkaufte er seine russischen Konzerntöchter an eine dortige Bank, gab die russische Staatsbürgerschaft auf, nahm kurz darauf die kasachische an und fokussierte sein Geschäft auf Zentralasien, Europa und die USA.
Turlows in Kasachstan gegründete Holding-Tochter Freedom Finance bietet seither russischen Bürgerinnen und Bürgern internationale Finanzdienstleistungen an, wie die kremlnahe Moskauer Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta berichtete: „Freedom Finance war seit 2008 in der Russischen Föderation tätig. Nach dem Verkauf des russischen Anteils des Unternehmens wechselten die meisten wichtigen Kunden zu Freedom Finance Global in Kasachstan.“
Das lag nicht nur geografisch nah. Denn Turlows Bank in Kasachstan soll laut einem im August 2023 veröffentlichten Report der New Yorker Finanzmarktanalysten Hindenburg Research auch von Sanktionen betroffenen Russinnen und Russen weltweit nutzbare Kreditkarten beschafft haben, die gar nicht an sie ausgegeben werden durften. Konzernchef Turlow bezeichnete den Report nach Bekanntwerden zwar als „haltlos und fehlerhaft“. Ob die Behauptungen von Hindenburg Research zutreffen, überprüfen derzeit aber sowohl kasachische als auch US-amerikanische Finanzaufseher.
Dem Aktienkurs von Freedom Holding hat der Report indes mehr genutzt als geschadet: Nach geringen Verlusten am Tag der Veröffentlichung stieg er kurz darauf um 15 Prozent. „Das ist für mich ein Hinweis“, so Turlow in einem Interview mit der Tageszeitung Cyprus Mail, „wem die Anleger wirklich glauben.“
DIE ABTRÜNNIGEN
Die Anzahl der Oligarchen, die Putins Krieg gegen die Ukraine ablehnen, ist überschaubar. Ihre Motive sind unterschiedlicher Natur.
Oleg Tinkow
Der Gründer und ehemalige Haupteigner der Tinkoff Bank bezeichnete den Angriffskrieg gegen die Ukraine in einem Instagram-Post als „sinnlos“ und die russische Armee als „ineffizient und korrupt“. Später sagte er in einem Interview, dass er kurz darauf unter Druck gesetzt wurde, seine Anteile an dem in Zypern ansässigen Finanzdienstleister TCS Group – seinerzeit das zweitgrößte Kreditkarteninstitut in Russland – zu einem Preis weit unter Wert zu verkaufen, weil er sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen hatte. Die 35-prozentige Beteiligung an TCS übernahm der kremltreue Milliardär und Vorstandschef des Bergbaukonzerns Norilsk Nickel, Wladimir Potanin. Im November 2022 gab Tinkow seine russische Staatsbürgerschaft ab und erklärte, er wolle nicht mit einem „faschistischen Land“ in Verbindung gebracht werden. Im Februar 2024 stuften russische Behörden den abtrünnigen Oligarchen als „ausländischen Agenten“ ein. Im Juni 2024 änderte die von ihm gegründete Tinkoff Bank ihren Namen in T-Bank, um die Verbindung zu ihrem Gründer zu kappen. Die von Tinkow finanziell unterstützten philanthropischen Projekte in Russland liegen zurzeit auf Eis. Wo Oleg Tinkow heute lebt, ist unbekannt.
Igor Wolobujew
Der ehemalige Vizepräsident der Gazprombank verließ Russland im März 2022 und kehrte in seine Heimatstadt Ochtyrka in der Ukraine zurück. Dort schloss er sich einer exilrussischen Einheit der ukrainischen Armee an. Im Sommer 2023 wurde er bei den Kämpfen um Bachmut verwundet, ging aber ein Jahr später wieder an die Front, wie der britische TV-Sender Sky News berichtete. Die russische Invasion bezeichnete Wolobujew als Kriegsverbrechen. Zudem äußerte er die Vermutung, dass hinter den mysteriösen Todesfällen einiger Oligarchen kurz nach Kriegsbeginn Putins Geheimdienste stecken könnten. Im Januar 2023 erließ die Moskauer Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen ihn.
Arkadi Wolosch
Der Mitgründer des russischen Internetkonzerns Yandex positionierte sich erst im August 2023 öffentlich gegen den russischen Angriffskrieg. Er bezeichnete die Invasion als „barbarisch“ und äußerte sein Entsetzen über das Leid der Menschen in der Ukraine. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte Wolosch daraufhin einen „Verräter“. Die EU hatte gegen den Oligarchen, der seit 2014 in Israel lebt, im Juni 2022 Sanktionen verhängt, die jedoch auf Antrag Woloschs im März 2024 aufgehoben wurden.
Michail Fridman
Der in der Ukraine geborene russische Oligarch und Mitgründer des Investmentkonzerns Alfa Group forderte bereits im Februar 2022 ein Ende des Krieges. Dennoch wurde Fridman von der EU und anderen westlichen Ländern mit Sanktionen belegt. Im April 2024 entschied das Gericht der Europäischen Union, die Sanktionen gegen ihn und seinen Geschäftspartner, den russischen Milliardär Pjotr Awen, aufzuheben, da nicht genügend Beweise für ihre Unterstützung der russischen Regierung vorlagen. Gegen diese Entscheidung legte Lettland im Juli 2024 Berufung ein, sodass die endgültige Aufhebung der Sanktionen noch aussteht. Parallel dazu reichte Fridman im August 2024 eine Klage gegen Luxemburg ein, in der er Schadensersatz in Höhe von 14,5 Milliarden Euro für eingefrorene Vermögenswerte forderte. Er argumentierte, dass die Sanktionen seine Geschäftsinteressen erheblich beeinträchtigt hätten. Das Verfahren ist anhängig.