Als seine Sperrmüll-Malerei in den frühen 1950er Jahren zum ersten Mal in einer Galerie in New York ausgestellt wurde, empörten sich viele Besucher derart darüber, dass man das Gäste-buch entfernen musste. Robert Rauschenberg (1925–2008), der 1964 als erster US-amerikanischer Künstler den Großen Preis der Biennale von Venedig gewann, sprengte mit seinen dreidimensionalen Collagen aus Alltagsgegenständen sämtliche Grenzen der Kunst und ging als Pionier der Pop-Art in die internationale Kunstgeschichte ein. „Ich will die Neugier der Menschen wecken und sie zum Genuss ihrer eigenen Welt einladen“, erklärte er. Im Oktober wäre Rauschenberg 100 Jahre alt geworden. In diesem Monat beginnt auch die Gruppenausstellung „Fünf Freunde: John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Cy Twombly“ im Museum Ludwig in Köln, kuratiert von Yilmaz Dziewior. Im Interview mit dem ARTE Magazin spricht er darüber, welchen Einfluss der Freundeskreis auf Rauschenberg hatte – und wie aktuell seine Sujets heute noch sind.
ARTE Magazin Herr Dziewior, wie gelang es Robert Rauschenberg, Alltägliches in Kunst zu verwandeln?
Yilmaz Dziewior Die Tatsache überhaupt ist sehr bemerkenswert. Im Gegensatz zu Marcel Duchamp, den er als Künstler schätzte, und der das sogenannte Ready-made entwickelte, ging Rauschenberg einen Schritt weiter: Duchamp stellte Gegenstände wie Pissoirs oder Flaschentrockner so, wie sie sind, auf Sockeln im Museum aus und deklarierte sie allein durch die Kontextverschiebung zur Kunst. Rauschenberg hingegen griff ein und veränderte Alltagsobjekte – er kombinierte Dinge, die man eigentlich nicht kombinieren würde.
ARTE Magazin Was sind prominente Beispiele dafür?
Yilmaz Dziewior In seinem Werk „Odalisk“ von 1958 setzte er eine Kiste auf einen architektonisch anmutenden Holzpfahl, der ein Kopfkissen durchbohrt, und das alles wird noch gekrönt von einem ausgestopften Hahn. Er spielt hier auch mit dem englischen Begriff „cock“, der Hahn, der umgangssprachlich für das männliche Geschlechtsteil steht. Mit seinen sogenannten Combines entstehen ganz neue Bilder, visuell und inhaltlich. Durch die Veränderung und teilweise Übermalung von Objekten überführte er sie in die Kunst. Und auf die Bühne: Seine ersten Combines, wie den Paravent „Minutiae“ von 1954, entwarf er für den befreundeten Choreografen Merce Cunningham.
ARTE Magazin Wie stark beeinflussten Rauschenbergs Freundschaften sein Werk?
Yilmaz Dziewior Sehr! Zusammen mit seinem damaligen Liebhaber Cy Twombly besuchte Rauschenberg ab 1951 das legendäre Black Mountain College in North Carolina, wo Merce Cunningham und dessen Lebenspartner, der Komponist John Cage, unterrichteten. Die Werke, die auf Twomblys und Rauschenbergs Reisen nach Italien und Nordafrika entstanden, sind formal kaum zu unterscheiden und ähneln einander thematisch in Bezug auf das Fetischhafte in indigener und etruskischer Kunst. Ab 1954 entwickelte Rauschenberg zehn Jahre lang Bühnenbild, Kostüme und Licht für die Merce Cunningham Dance Company, während Cage die Musik komponierte. Rauschenbergs frühe weiße Bilder inspirierten Cage dazu, sich mit dem Konzept der Stille zu beschäftigen, wohingegen Rauschenberg die musikalische Installation „Soundings“ kreierte. Später verließ Rauschenberg Twombly für Jasper Johns. Arbeiten von Johns, wie die zur US-amerikanischen Flagge, scheinen wiederum Twombly inspiriert zu haben. Die persönlichen Verflechtungen schlugen sich interdisziplinär – in Bildender Kunst, Musik und Tanz – in den Arbeiten der fünf Freunde nieder. Es ging dabei um mehr als Freundschaft.
ARTE Magazin Auch Rauschenberg war fasziniert von den Machtsymbolen der USA. Was macht seine Reflexionen der 1950er und 1960er heute so aktuell?
Yilmaz Dziewior Wir werden mit unserer Ausstellung, an der wir fast vier Jahre gearbeitet haben, quasi eingeholt von der Geschichte. Mit den kriegerischen Zuspitzungen in der Ukraine und im Nahen Osten kommt es wieder zur Blockbildung, wie wir es aus dem Kalten Krieg kennen. Rauschenberg wurde von der Nasa eingeladen, Kunstprojekte für die Raumfahrt zu entwickeln: Technisch begeisterte ihn alles – vom Schrottplatz bis ins All. Heute käme vielleicht noch künstliche Intelligenz dazu. In der McCarthy-Ära der 1960er Jahre herrschte eine repressive Stimmung gegenüber Kommunisten und Homosexuellen – gerade sehen wir leider, dass die Errungenschaften der LGBTQ-Bewegung teilweise wieder zur Debatte stehen. In den Werken spiegelt sich, wie erschreckend aktuell Rauschenbergs Themen sind – und wie wertvoll das war, was man erreicht hat.
ARTE Magazin Wollte Rauschenberg mit seiner Kunst provozieren?
Yilmaz Dziewior Ich glaube nicht, dass es ihm um Provokation ging. Manche seiner Arbeiten haben provoziert, aber das ist natürlich bei Kunst, die neue Wege einschlägt. Seine Kunst sticht heraus. Er war ein erfolgsorientierter Mensch, sehr unerschrocken, energetisch, und ein guter Kommunikator – ein charmanter, gewinnender Mensch. Vielleicht hat er schon früh gemerkt, dass er in mancher Hinsicht anders war als andere. Er war Legastheniker, was nach wie vor als Defizit angesehen wird – interessant ist, dass er trotzdem viele Schriftzeichen in seine collagenartige Kunst gesetzt hat, etwa Straßenschilder mit der Aufschrift „Caution“ oder „One Way“. Auch seine Homosexualität hat nicht in das normierte Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit hineingepasst. Aber in der Kunst konnte er sich frei entfalten.
Zur Person:
Yilmaz Dziewior, Direktor und Kurator Museum Ludwig, Köln
Der 1964 in Bonn geborene Kunsthistoriker und Kurator für zeitgenössische Kunst leitet seit 2015 das Museum Ludwig in Köln.






