Fast alles an den neuen Stücken von The Cure klingt nach Abschied. Abschied von der Liebe – und von geliebten Menschen. Abschied von der Welt, wie wir sie kennen, sowie der Hoffnung, dass schon bald alles gut wird. Und auch wenn Sänger Robert Smith und seine Mitstreiter erst Mitte 60 sind – ein wenig klingen ihre Songs bereits nach Abschied von dieser zur Institution gewordenen Band, die mit ihrer Mischung aus Gothic Rock, Post-Punk und Dark Wave seit mehr als 40 Jahren eine ganz eigene Nische in der Popkultur bedient. Ob „Songs of a Lost World“, das im November veröffentlichte 14. Studioalbum von The Cure, tatsächlich ihr letztes Werk sein wird? Das kann und will derzeit niemand sagen. Zuvor hatte sich die Band aus Südengland jedenfalls 16 Jahre Zeit für neues Material gelassen. Wäre es denn so, stünde die Platte sicherlich in einer Reihe mit großen finalen Alben des 21. Jahrhunderts, etwa „Blackstar“, das David Bowie im Jahr 2016 zwei Tage vor seinem Tod veröffentlichte. Auch kommerziell knüpfen The Cure noch einmal an ihre erfolgreichsten Zeiten an: Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland erreichte „Songs of a Lost World“ Platz eins in den Charts.
Dass Lieder mit Titeln wie „Alone“, „Nothing Is Forever“ oder „Warsong“ gerade den Zeitgeist treffen, erklärt sich angesichts der Weltlage von selbst. Das Geheimnis von The Cure bestand allerdings schon immer darin, auch bei schmerzvollen Themen nicht im Selbstmitleid zu versinken. Sowohl textlich als auch musikalisch gilt: Je schonungsloser sich Robert Smith und seine Mitmusiker ihren Gefühlen hingeben, je tiefer sie ihre Trauer ergründen, desto größer sind die Glücksmomente beim Hören. Die teils opulent arrangierten neuen Stücke wirken genau deshalb wie tröstende Lichter in einem immer größer werdenden Schatten. Nicht nur Fans, auch Musikkritiker zeigen sich berührt davon: „Das Album ist kraftvoll, von dunkler Schönheit und oft auf eine Art und Weise bewegend, die sich anders anfühlt als alles, was The Cure bisher veröffentlicht haben“, schrieb Musikjournalist Alexis Petridis im Guardian. Und die New York Times beschreibt „Songs of a Lost World“ als eine „acht Stücke umfassende Suite aus Verzweiflung, Wut und grüblerischen Gedanken über ein Leben, das in eine unaufhaltsame Talfahrt geraten ist“. NYT-Autor Ben Sisario sieht es auf Augenhöhe mit The Cures düsterem psychedelischen Meisterwerk von 1989: „Disintegration“. Genau dieser Platte widmet ARTE im Januar eine Dokumentation, gefolgt von der Aufzeichnung eines Jubiläumskonzerts, das die Band 2018 vor 65.000 Zuschauern im Londoner Hyde Park spielte.
STREITER FÜR GERECHTIGKEIT
Natürlich wird das Schaffen von The Cure längst von zahlreichen Büchern begleitet – eines sticht dabei besonders hervor, eben weil es keine klassische Biografie ist: Die 2023 veröffentlichte „Curepedia“ von Simon Price. Lexikonartig arbeitet sich der vielfach ausgezeichnete britische Musikjournalist von A bis Z durch ein knappes halbes Jahrhundert Bandgeschichte. Vielsagend zum Beispiel die Anekdote über einen gewissen Dr. Anthony Weaver: ein Sprachlehrer an der Schule von -Robert Smith. In ihren Anfangsjahren spielten The Cure als junge, noch unbekannte Gruppe ein paar Benefizkonzerte zugunsten des beliebten Pädagogen, der mehrfach seinen Job verlor, weil er homosexuell war. Was im prüden England auch Ende der 1970er noch als Unzucht galt, war für die Band ein Anlass für Solidarität und Rebellion. Bei einem der Konzerte kam es sogar zu Ausschreitungen: „Rechtsradikale Skinheads umkreisten das Gebäude und versuchten es anzuzünden, während The Cure spielten“, schreibt Price.
Anders als viele sehr erfolgreiche Bands bleiben The Cure ihrem Ruf als nonkonforme Streiter für Gerechtigkeit selbst heute noch treu. Das beste Beispiel hierfür findet man in der „Curepedia“ unter dem Schlagwort „Ticketmaster“: Das Kapitel schildert, wie sich Robert Smith ab 2023 mit dem international mächtigsten Anbieter für Konzertkarten anlegte – und Erfolg damit hatte. The Cure setzten eine von ihnen bestimmte, vergleichsweise moderate Preisgestaltung für ihre Shows durch und erreichten teilweise Rückzahlungen von Zusatzgebühren, die Ticketmaster eigenmächtig erhoben hatte. „Smith’ Intervention beschämte implizit alle anderen großen Künstler, die das Thema ignorieren und achselzuckend von ,Marktkräften‘ sprechen“, schreibt Price und betont: „Er errang einen großen Sieg, der weltweit für Schlagzeilen sorgte. Die beste davon: ,Ticketmaster pissed off the wrong Goth‘.“
Anlass zur Hoffnung, dass The Cure trotz aller Abschiedstendenzen noch eine ganze Weile bestehen werden, gibt es derweil durchaus. Zum einen, weil die Briten selbst in den 16 Jahren ohne Studioalbum permanent um die Welt tourten und dabei selten unter drei Stunden auf die Bühne gingen. Zum anderen, weil Robert Smith angedeutet hat, dass er noch mehr Material in der Qualität von „Songs of a Lost World“ in der Hinterhand hat. Von bis zu zwei weiteren Alben ist im Interview mit der New York Times die Rede. Das wäre dann eine Abschiedstrilogie – und dem Phänomen The Cure durchaus angemessen.