Die New York Times nennt ihn einen „Wundernerv“, die Brigitte bezeichnet ihn als „das neue It-Piece unter den Körperteilen“ und auf TikTok kursieren Tipps, wie man ihn am besten stimulieren kann: Der Vagus erlebt gerade einen Hype. Tatsächlich nimmt der größte Nerv des Parasympathikus eine machtvolle Rolle im Körper ein, reguliert Entspannung und Verdauung. Er entspringt im Hirnstamm und verläuft entlang des Halses durch den Brustkorb, führt zur Lunge, zum Herzen und in die meisten Bauchorgane. Dabei ermöglicht er eine Feedback-Schleife zwischen Gehirn und Organen: Wenn der Körper etwa während einer Prüfung mit schnellem Herzschlag reagiert, hilft der Vagusnerv anschließend dabei, Entspannung einzuleiten. Hierfür überträgt er an den Sinusknoten des Herzens das Signal, die Herzfrequenz zu senken. Der langsame Herzschlag wiederum signalisiert dem Gehirn Entspannung. Auch wenn noch viele Forschungsfragen offen sind, profitieren viele Menschen bereits vom therapeutischen Potenzial des Vagus: etwa beim Sport, bei Depressionen oder chronischen Erkrankungen, wie die Dokumentation „Vagusnerv: Wie das Hirn zum Herzen spricht“ zeigt. Sie möchten es selbst einmal ausprobieren? Um den Nerv zu stimulieren, sind keine teuren technischen Geräte nötig – Sie brauchen nur 15 Minuten Ruhe, etwas Eiswasser und frische Luft. Gute Erholung!
Atemübungen für mehr Fokus
Die wirkungsvollste Methode um den Vagus zu aktivieren, „kostet nichts und kann überall eingesetzt werden“, sagt der Psychologe Sylvain Laborde, der an der Deutschen Sporthochschule Köln lehrt. Er erforscht, wie der Vagusnerv durch gezielte Atemübungen aktiviert werden kann, um den Herzschlag zu verlangsamen und die Variabilität der Zeitabstände zwischen den einzelnen Herzschlägen zu vergrößern – ein Zustand, in dem Stress gut bewältigt werden kann. Das Ergebnis: Die Einatmung sollte möglichst vier Sekunden dauern und die Ausatmung sechs. Wichtig ist es, 15 Minuten lang in den Bauch zu atmen und die Luft durch die Nase einzuziehen. Probanden, die diese Technik angewendet hatten, konnten sich länger konzentrieren und schneller neue Anweisungen umsetzen als andere. „Regelmäßige Atemübungen wirken sich positiv auf unsere Hirnfunktion aus“, sagt Laborde. Der Psychologe zeigte in einer Studie mit Sportlern zudem, dass die Übungen die Impulskontrolle deutlich verbessern. Labordes Inspiration: Der Kopfstoß von Zinédine Zidane beim WM-Finale 2006 gegen Italien – ein Ausraster, der mit einem trainierten Vagusnerv wohl so nie passiert wäre.
Kältekick beim Eisbaden
Auch wenn es etwas Überwindung kostet: Auch Kältereize, etwa bei der Dusche am Morgen oder gar durch ein Eisbad im winterlichen See, können den Vagusnerv stimulieren. Der starke Reiz löst eine Stressreaktion des Körpers aus, die der Parasympathikus über eine langsamere Herzfrequenz zu regulieren versucht. Wichtig ist es, sich vorsichtig heranzutasten. Eisbäder sollten nur nach Rücksprache mit einem Arzt und nach guter Vorbereitung genommen werden, etwa durch regelmäßiges kaltes Duschen über den Zeitraum von ein paar Wochen. Wer möchte, kann auch mit kalten Gesichtsbädern starten und sich hierbei sogar noch den angeborenen Tauchreflex zunutze machen, indem er den Kopf kurz unter Wasser hält. Dies verbessert die Herzratenvariabilität erheblich und macht gute Laune, wie Sylvain Laborde nachgewiesen hat. Er selbst hat für stressige Zeiten immer eine Schüssel Eiswasser auf seinem Schreibtisch stehen.
Heilsame Vibration
Das Mitsingen der eigenen Lieblingslieder stärkt nicht nur die Atemmuskulatur. Durch die Vibrationen in der Region des Kehlkopfes wird auch der Vagusnerv aktiviert. Eine Studie der Universität Göteborg zeigt, dass durch das beim Singen forcierte lange Ausatmen die Herzratenvariabilität verbessert wird. Durch koordiniertes Atmen beim Singen schlagen mit der Zeit die Herzen von Chorsängern sogar im Gleichtakt – das zufrieden machende Bindungshormon Oxytocin wird ausgeschüttet. Für alle, die keine gute Stimme haben, gilt: Summen funktioniert auch. Idealerweise gemeinsam.
Triggerpunkte der Entspannung
Nur an wenigen Stellen im Körper kann der Vagusnerv direkt über die Haut angeregt werden: am Hals und am Ohr. Daher werden bei der Behandlung von Depressionen und Epilepsien seit über 20 Jahren elektronische Vagusnerv–Stimulatoren am Ohr eingesetzt, wenn andere Behandlungen nicht erfolgreich waren. In geringerem Maße können auch Massagen und Akupressur zur Aktivierung des Vagusnervs beitragen, wie eine Untersuchung der Universität Konstanz zeigt. Um die richtigen Punkte zu treffen, sollte man sich hierbei jedoch lieber auf Profis verlassen – und nicht auf Social-Media-Videos.
Yoga für die Amygdala
Studien zeigen, dass regelmäßiges Yoga die Symptome von Angststörungen und Depressionen verringern kann. Auch bei der Behandlung vom chronischen Erschöpfungssyndrom (Fatigue) wird es eingesetzt, etwa an der Charité. Kein Wunder, wirkt sich doch die Kombination aus Atemtechniken, dem Singen von Mantren und speziellen Körperhaltungen (Asanas) direkt auf die Vagusnerv-Aktivität aus. Diese dämpft wiederum die Amygdala – also einen Teil des limbischen Systems im Gehirn, der psychische und körperliche Reaktionen auf stress- und angstauslösende Situationen steuert.





