Kaputte Jeans, Springerstiefel und eine wilde Frisur: Als eine Art Punk mit Geige schockte das britische Enfant terrible Nigel Kennedy die Klassik-Szene Ende der 1980er Jahre. Seine Aufnahmen von Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ – interpretiert mit Elektrogeige, Pop-Combo, Schlagzeug und Hammondorgel – wurden zum meistverkauften Klassikalbum aller Zeiten. Damals galt Barock als Rock ’n’ Roll und Kennedy ließ die Klassik-Spießer das Ende des Abendlandes befürchten. Dabei hat der in Brighton geborene Geiger das, was Vivaldis Musik seit jeher ausmacht, nur zeitgemäß verstärkt: die radikalen Kontraste der Musik, die lyrischen Passagen der Komposition und die teils provokanten Klangeffekte.
Schon vor 300 Jahren begeisterte Antonio Vivaldi – damals noch als Hofkapellmeister in der norditalienischen Kleinstadt Mantua – sein Publikum mit diesen Extremen. Seine „Vier Jahreszeiten“ waren in barocke Klänge geschlagene Naturbilder: Vogelstimmen, Gewitter, Hundegebell und das Knirschen von Eiszapfen. Diese Musik lebt von spektakulären Gegensätzen und von rasanten Schnell-langsam-schnell-Effekten. Vor allen Dingen aber schaltet Vivaldi immer wieder von den gewaltigen Naturbildern in den Ecksätzen in persönliche Jahreszeiten-Stimmungen der Menschen in seinen Mittelsätzen um. Ein andauerndes Spiel zwischen Innen- und Außenwelten. So lotete Vivaldi das Spannungsfeld von Mensch und Natur in allen Extremen neu aus.
Eine besondere Beziehung pflegte er stets zu seinem Geburtsort Venedig: Das blühende kulturelle Leben und die Offenheit der Stadt für innovative Kunst boten ihm ideale Bedingungen, seine virtuosen und experimentellen Kompositionen zu entwickeln. Der französische Geiger Théotime Langlois de Swarte und die Musiker des Ensembles Le Consort spielten deshalb unlängst an symbolträchtigen Orten Venedigs – darunter der Palazzo Grassi und die Fondazione Giorgio Cini – die einzelnen Jahreszeiten zu unterschiedlichen Tageszeiten. Interpretiert wurde das Werk auf barocken Instrumenten, um erlebbar zu machen, wie es sich Vivaldi wohl einst vorgestellt hatte. ARTE zeigt im Juni Aufzeichnungen der Aufführungen.
Die ewige Neuerfindung
Es ist die Unmittelbarkeit der Musik und die bewusste Ausreizung von Effekten, die Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ zu einem Meisterwerk machen. Das Werk ist zum einen die Geburtsstunde der Programmmusik (Vivaldi veröffentlichte die Komposition gemeinsam mit lyrischen Sonetten), zum anderen ein Paradebeispiel für exzentrische Virtuosität. Die vier aneinandergereihten Geigenkonzerte laden Musikerinnen und Musiker aller Zeiten ein, eigene, zeitgemäße Interpretationen zu finden.
Für unsere Gegenwart hat Max Richter neue Maßstäbe gesetzt. Der deutsch-britische Komponist ist bei seinem „Remix“ mindestens so umstritten gewesen wie zuvor schon Nigel Kennedy. Richter hat 75 Prozent des Originalmaterials verworfen und die verbliebenen Elemente mit minimalistischen und postmodernen Techniken wie Loops und Phasenverschiebungen neu gestaltet. Das Ergebnis ist eine Mischung aus barocker Klangsprache und zeitgenössischer Klangästhetik. Dass Richter sich ausgerechnet „Die vier Jahreszeiten“ vorgenommen hat, erklärt er damit, dass ihn das andauernde „Abdudeln“ der Komposition als Unterhaltungsmusik genervt habe. Lange war Vivaldis Musik besonders durch bunt verkleidete Unterhaltungsorchester wie Rondò Veneziano bekannt, die mit ihren seichten Interpretationen über zwei Millionen Platten allein in Deutschland verkauften. Richter wollte Vivaldis Werk den Zauber zurückgeben und „Die vier Jahreszeiten“ für das 21. Jahrhundert neu erfahrbar machen.
Tatsächlich gibt es zwei vollkommen unterschiedliche Ansätze, mit Vivaldis Meisterwerk umzugehen: entweder die radikale Erneuerung, so wie Kennedy oder Richter sie vorangetrieben haben, oder die kommerzielle, klassische „Nutzung“, etwa für Warteschleifen oder Werbung. Mit den „Vier Jahreszeiten“ wurde für holländischen Gouda ebenso geworben wie für Zahnpasta (Elmex Sensitive nutzte den „Winter“) und Parfum (Laura Biagiotti nutzt den „Sommer“). Im Kino diente die Musik als Soundtrack für den Thriller „Runaway Train“ (1985) sowie „Shine – Der Weg ins Licht“ (1996), den Film über den australischen Pianisten David Helfgott.
Die Unmittelbarkeit der Musik und das Thema der Jahreszeiten im Wandel hat Vivaldis Komposition in den zurückliegenden Jahren besonders für Klimaschützer interessant gemacht. Im Projekt „The [uncertain] Four Seasons“ arrangieren Wissenschaftler, Komponisten und Designer etwa die Partitur mithilfe von Algorithmen neu. Plötzlich sind die Sommer besonders lang und heiß und die Vogelstimmen verschwinden aus den Noten. In der Elbphilharmonie begleiten Projektionen von Klimadaten und Bilder von Naturkatastrophen die Musik, und der Fernseh-Physiker Harald Lesch nutzt Vivaldis Werk in seinen Bühnenprogrammen, um den Wandel der Jahreszeiten und die Folgen des Klimawandels zu erklären. Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ verführen seit ihrer Entstehung auch zu technischen Neudeutungen und Innovationen. Besonders spektakulär sind immersive Aufführungen, bei denen die Musik mit aufwendigen Lichtinstallationen und Videoanimationen kombiniert wird. In der Isarphilharmonie München wurde das Publikum in eine multimediale Illusion versetzt, optische Effekte von Naturgewalten machten die Jahreszeiten unmittelbar erfahrbar. Vivaldi selbst hatte all diese Möglichkeiten vor 300 Jahren noch nicht, aber seine Musik scheint sich allem Neudenken zu öffnen. „Die vier Jahreszeiten“ haben Grenzen aufgestoßen und Töne als musikalische Bilder erlebbar gemacht. Bilder aus Tönen, die wir bis heute immer wieder neu erfinden.





