Früher war ich mir sicher: Wenn ich eines Tages überraschend zur Superheldin mutieren würde, wäre auf jeden Fall ein Tier daran schuld. Erstens, weil ich Tiere grundsätzlich für schlauer und lebenstüchtiger halte als Menschen, und zweitens, weil das bei der Superhelden-Genese Tradition hat. Peter Parker wurde von einer Spinne gebissen und verwandelte sich in Spiderman. Ich würde vermutlich beim Gassigehen von einem aus dem Zoo ausgebüxten Faultier gezwickt – was logistisch durchaus im Bereich des Möglichen liegt, weil mein Hund inzwischen ein älterer Herr ist, was unser Spaziertempo entsprechend drosselt. Nach dem Biss würde ich eine sonderbare innere Ruhe und den nahezu unbezwingbaren Drang verspüren, mich an der Deckenlampe festzuklammern und kopfüber in den Raum baumeln zu lassen. Ich wäre jetzt Deadline-Girl, ich würde die entspannte Lebensweise des Faultiers channeln und Menschen aus der Gehetztheit des modernen Lebens befreien, indem ich sie auf einer Riesenschildkröte (oder, falls nicht aufzutreiben, einem lahmenden Pferd) heimsuchen und zu mehr Gemächlichkeit im Alltag zwingen würde.
Inzwischen bin ich, was mein tierweltliches Langsamkeitsmaskottchen angeht, vom in der ARTE-Dokumentation ausführlich gepriesenen Faultier auf die Seekuh umgeschwenkt. Das liegt vor allem an der herrlichen Plumpheit, die diese Tiere mitbringen – angesichts des aktuellen Abmagerungseifers auf Skinnytok und in den Instagram-Profilen führender Lifestyle-Darsteller sollte ein Tier, das aussieht wie ein verbeulter Batzen halbherzig in Zylinderform gekneteter und dann achtlos beiseite gelegter Knetmasse, dringend mehr Raum einnehmen. Vor allem aber ist die Seekuh eine Ikone der Gemächlichkeit. Sie zieht in einem Tempo durch die tropischen Gewässer, das selbst ambitionierten Algen zu langsam wäre. Und doch wirkt in dieser Unterwasser-Schwebewelt nichts an ihr träge. Eher souverän, als würde sie sagen: Ich brauche kein höheres Ziel. Ich bin doch schon da.
Seekühe – oder Manatis, wie sie eleganter heißen – sind schwer zu fassen, vor allem körperlich. Sie sind groß (bis zu vier Meter lang), schwer (bis zu 1.500 Kilo) und radikal unambitioniert. Ihr Tag besteht aus zwei Dingen: Grasen und Gleiten. Beides vollführen diese edlen Tiere mit einer Seelenruhe, die auf modernde Businessmenschen geradezu provozierend wirken muss. Im Schnitt schwimmen Seekühe mit etwa fünf Kilometern pro Stunde, also in einem Tempo, in dem Menschen spazieren gehen. Ihre großen, paddelartigen Flossen erinnern ein wenig an Yoga-Blöcke. Ihre bestürzend niedlichen Gesichter tragen einen Ausdruck stiller Milde, irgendwo zwischen Weitsicht und Desinteresse. Und ihr Lebensstil? Rein pflanzlich, tiefenentspannt, konfliktscheu. Sie haben kaum natürliche Feinde – außer, natürlich: den Menschen.
Langsamkeit als Lebensform
Was die Seekuh lebt, ist keine Faulheit, sondern Langsamkeit als Lebensform. Ein Ja zur Dichte, nicht zur Dringlichkeit. Ein Nein zu allem, was piept, blinkt, drängt. Wie gut täten uns allen fraglos zwei, drei Seekuhmomente am Tag? Ein kurzes Innehalten, bei dem man sich fragt, ob man das gerade wirklich tun muss oder ob man auch einfach langsam weitergleiten könnte. Einfach klopsig und gleichmütig vorbeifloaten an all den terminlichen Zumutungen und angeblich so dringlichen Dingen.
Vielleicht ist die Seekuh so schwer, weil sie so viel Substanz hat und so wenig Anteile heißer Luft. Weil sie sich nicht aufbläht mit Erwartung und Selbstüberforderung, und weil sie nicht zwischen gestern und morgen zerrieben wird, sondern einfach in ihrem Jetzt dümpelt, stoisch und zufrieden. Und vielleicht liegt darin der eigentliche evolutionäre Vorsprung: Wer langsam lebt, lebt tiefer. Wer sich nicht hetzen lässt, hat Kapazitäten für Wahrnehmung, für Mitgefühl und Feinsinnigkeiten. In einer Welt, die uns einreden will, dass wir sprinten müssen, um zu überleben, ist die Seekuh ein trotziges Nein mit Flosse. Manche sagen: Die Roten Listen gefährdeter Tierarten warnen, die Seekuh sei vom Aussterben bedroht. Ich sage: Vielleicht ist sie das letzte noch lebende Ideal.





