Es war eine kleine Geste mit großer Wirkung: Bei einer Pressekonferenz während der Europameisterschaft 2021 schob Cristiano Ronaldo eine Coca-Cola-Flasche beiseite, die vor ihm auf dem Tisch platziert war. Dann griff er nach einer Wasserflasche, prostete damit in die Kamera und sagte: „água“ – portugiesisch für Wasser. Der 20-sekündige Clip wurde millionenfach auf Social Media geteilt – und der Marktwert von Coca-Cola schrumpfte noch am selben Tag um vier Milliarden Euro. Dass das Ronaldo-Video alleiniger Auslöser für den plötzlichen Kursfall war, schlossen Börsenexperten zwar aus. Sicher ist aber: Dem Fußballstar gelang es, wenigstens kurz Aufmerksamkeit auf einen Widerspruch zu lenken, den sonst niemand hinterfragt: Coca-Cola, seit 1988 offizieller Sponsor der Uefa, hat mit Profifußball nicht viel zu tun. Trotzdem bekommen Millionen Zuschauende vor, während und nach jedem Spiel das Logo mit dem geschwungenen Schriftzug zu sehen.
„Werbung für zuckerhaltige Produkte ist omnipräsent“, sagt Luise Molling von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Sie begegne uns beim Sport, im Fernsehen und Radio, auf Social Media und neuerdings auch im Gamingbereich. Neben Softgetränken und Süßwaren, die laut Molling die größten Gewinnmargen bringen, wird auch für Produkte mit verstecktem Zucker geworben – von Fruchtjoghurt über Fertigsaucen bis zur Tiefkühlpizza. Je nach Studie enthalten 64 bis 74 Prozent aller verarbeiteten Lebensmittel Zucker. Im Schnitt konsumieren Deutsche laut einer Untersuchung der Versicherung Allianz rund 95 Gramm zugesetzten Zucker pro Tag – das Vierfache dessen, was die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Die gesundheitlichen Folgen sind längst erforscht: Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Karies.
Doch trotz aller bekannten Risiken steigt der weltweite Zuckerverbrauch jährlich um etwa zwei bis drei Millionen Tonnen. Die Gier des Menschen nach Zucker scheint unerschöpflich. Woran liegt das? Aus evolutionsbiologischer Sicht ergibt unsere Lust auf Süßes durchaus Sinn. Für unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, galt: Bittere Beeren sind potenziell giftig und oft sogar tödlich, süße dagegen ungiftig und lebenswichtig. Bis heute aktiviert süßer Geschmack das Belohnungssystem in unserem Gehirn, was – ähnlich wie bei Suchtmitteln – zu einer erhöhten Dopaminfreisetzung führt. Der Körper gewöhnt sich an den regelmäßigen Konsum und entwickelt dadurch ein immer stärkeres Verlangen.
So sehr sich unser Körper an das Zucker-High gewöhnt hat, so schwer war der süße Stoff lange Zeit zu bekommen. Bis ins 15. Jahrhundert war Zucker ein Luxusgut, das sich nur der Adel leisten konnte. Erst mit der ersten Atlantiküberquerung im Jahr 1492 und der Kolonisierung der „Neuen Welt“ änderte sich das: In der Karibik und in Brasilien errichteten europäische Eroberer riesige Zuckerrohrplantagen – und verschifften tonnenweise Rohrzucker nach Europa. Die ARTE-Dokumentation „Zucker: Genuss um welchen Preis?“ zeichnet die dunkle Geschichte des süßen Lebensmittels nach, das nicht nur untrennbar mit dem Sklavenhandel verbunden ist, sondern auch als Turboantrieb des modernen Kapitalismus gilt.
„Viele Generationen von Sklaven haben ihre Arbeitskraft in die Zuckerrohrernte gesteckt“, sagt Vincent Brown, Professor für afrikanisch-amerikanische Studien an der Harvard University. Die Krux: „Der Ernteertrag landete anschließend bei den Konsumentinnen und Konsumenten im Westen.“ Aufgrund seiner Energiedichte sorgte der Zucker dort kurzfristig für eine höhere Produktivität. Zudem wurde er zum Sprungbrett für die Kommodifizierung anderer Kolonialwaren wie Tee und Kakao. All das brachte wirtschaftlichen Aufschwung für Europa – und sorgte in den Kolonien für Not und Elend.

Auch mit der schrittweisen Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert besserte sich die Lage der Menschen auf den karibischen Plantagen nur unwesentlich. Für Vincent Brown zählt dieser Umstand zu den bittersten Ungerechtigkeiten: Während Großgrundbesitzer finanziell entschädigt wurden, weil sie „ihre“ Arbeitskräfte verloren, gingen die seit Generationen ausgebeuteten Sklaven leer aus. „Sie wurden nie für die Arbeit ihrer Vorfahren entschädigt und konnten nicht in ihre eigene Zukunft investieren. So folgten auf Generationen der Sklaverei Generationen der Armut.“
Zuckerrohr vs. -Rübe
Die Bewirtschaftung der Plantagen verblieb in den Händen der Eroberer: Neue industrielle Methoden wie Dampfmühlen wurden eingeführt, und große Zuckerunternehmen wie die American Sugar Refining Company kontrollierten Ende des 19. Jahrhunderts fast den gesamten US-Markt. Zucker wurde in Zeitungen und Illustrierten als gesunder Energielieferant beworben – angeblich verdauungsfördernd, kräftigend und unverzichtbar für das Wachstum von Kindern.
Während der Zucker die USA reich machte, traf Europa Napoleons Kontinentalsperre von 1806 hart: Die Einfuhr von Kolonialwaren wurde blockiert. Ein Ersatzstoff war jedoch bald gefunden: die Zuckerrübe, die auch in gemäßigtem Klima angebaut werden konnte und durch Pressen, Erhitzen und Kristallisieren denselben Reinstoff lieferte wie Zuckerrohr: Saccharose. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts deckte Europa einen Großteil seines Bedarfs aus Rüben, und um 1900 war der Kontinent von Importen weitgehend unabhängig – zugleich aber abhängig von Zucker: Der Pro-Kopf-Verzehr lag nun schon bei rund 30 Kilogramm pro Jahr.
Wer heute in Deutschland Süßwaren kauft, konsumiert meistens eine Mischung aus Rohr- und Rübenzucker. In welchem exakten Verhältnis, lässt sich aus der Zutatenliste ebenso wenig nachvollziehen wie die Herkunft, weiß Luise Molling von Foodwatch: „Es gibt keine Kennzeichnungspflicht, woher der enthaltene Zucker stammt.“ Eine EU-Verordnung von 1968, die vorschrieb, dass der überwiegende Teil aus EU-Anbau kommen musste, wurde 2017 abgeschafft. Für die Gesundheit mache das keinen Unterschied, sagt Molling. Was die Umweltbilanz und die Produktionsbedingungen angeht, allerdings schon.
Während Zuckerrüben in Europa mit kurzen Transportwegen und mechanisierter Ernte vergleichsweise effizient verarbeitet werden, ist die Bilanz von Rohrzucker weitaus problematischer. Riesige Monokulturen in den Tropen verdrängen Regenwald und zerstören Böden; viele Felder werden vor der Ernte abgebrannt – mit enormem CO₂-Ausstoß. Hinzu kommen teils sklavenähnliche Arbeitsbedingungen: In der Dominikanischen Republik schuften etwa haitianische Wanderarbeiter unter prekären Umständen für wenige Dollar am Tag. „Hier kosten Menschen immer noch weniger als Maschinen“, sagt Vincent Brown.
Preisdumping: Weltweite Nachfrage steigt
Mindestens 70 Prozent des weltweit konsumierten Zuckers stammen mittlerweile aus Zuckerrohr. Brasilien ist Spitzenreiter; die Produktion ist dort so kostengünstig, dass Bauern in Entwicklungsländern und Europa kaum mithalten können. Dass die weltweite Nachfrage immer weiter steigt, liegt auch am Preisdumping, das seit Jahrhunderten betrieben wird: Zucker ist inzwischen auch für jene erschwinglich, die ihn zuvor unter teils prekären Bedingungen für andere produziert haben. Besonders in Ländern des Globalen Südens steigt der Konsum rasant: In Indien etwa hat er sich seit 1960 mehr als vervierfacht – von fünf Kilogramm auf 22 Kilogramm im Jahr 2020.
Die Länder mit dem höchsten Zuckerverbrauch bleiben jedoch weiterhin mit großem Abstand die USA (46 Kilogramm pro Person und Jahr) und Russland (40 Kilogramm). In Deutschland ist der Konsum zuletzt auf 30,4 Kilogramm gesunken, bleibt im europäischen Vergleich aber weiterhin hoch. Laut Molling ist das auf den konstant hohen Konsum von Limonaden und Softgetränken zurückzuführen: Während die Deutschen mehr Zucker über Getränke als über Süßwaren konsumieren, haben Länder wie Frankreich und Großbritannien mittlerweile eine Softgetränkesteuer eingeführt. „Der Pro-Kopf-Konsum bei Erwachsenen ist pro Tag um 5 Gramm gesunken, bei Kindern sogar noch mehr.“
Obwohl die Zuckersteuer nachweislich wirksam ist, gibt es sie in Deutschland bislang nicht. Alle Versuche, die Ernährungsgewohnheiten gesetzlich zu regulieren, stoßen auf Widerstand. Das bekam auch der ehemalige Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) zu spüren: Er wollte Werbung für ungesunde Lebensmittel einschränken, die gezielt an Kinder gerichtet ist. Doch sein Vorhaben wurde von der Werbe- und Lebensmittelindustrie sowie von der FDP scharf kritisiert – und scheiterte. Der aktuelle Landwirtschaftsminister Alois Rainer (CSU) lehnt Steuererhöhungen im Lebensmittelsektor ab und plädiert stattdessen für eine „ideologiefreie Ernährungsdebatte“. Ein Signal, das die beiden deutschen Zuckerverbände „begrüßen“, wie auf ihrer Website zu lesen ist.
Laut Molling bleiben gesetzliche Vorgaben das wirksamste Instrument, um den Zuckerkonsum nachhaltig zu senken. „Wir sehen seit Jahren, dass freiwillige Selbstverpflichtungen nichts bringen“, sagt die Expertin. Überlasse man Unternehmen die Regulierung, gehe das immer nur so weit, wie es ihren Profitinteressen nicht schadet. Und mit Zucker, das zeigt die seit Jahrhunderten ungebremste Erfolgsgeschichte, lässt sich gutes Geld verdienen.





